[Allegro] Der Blick nach vorn : 1. Das Umfeld

Thomas Berger ThB at Gymel.com
Mi Jun 11 10:18:46 CEST 2014


Lieber Herr Eversberg, liebe Liste,

ich picke mir da mal etwas heraus:


> 3. Die Sammeltätigkeit der Bibliotheken geht über physische Objekte
>    immer weiter hinaus: Das Paradigma der Bibliotheksarbeit lautet
>    nicht mehr "Bestand" ("ownership"), sondern "Zugang" ("access"),
>    und die zugänglich zu machenden Objekte sind nicht mehr nur
>    Publikationen, sondern mehr und mehr körperlose Inhalte in
>    wachsender Diversität. Aktuell sind es Forschungsdaten, die man sich
>    zu fixieren, zu bewahren und zu erschließen anschickt. Es besteht
>    außerdem das Bestreben, Kulturgut-Institutionen aller Art in
>    gemeinsame Boote namens "Europeana" und "Deutsche Digitale
>    Bibliothek" zu holen, mit interoperablen Regeln und Strukturen.
>      http://www.europeana.eu  /  http://www.ddb.de

Das Wort "Erschliessung" - nach meiner Erinnerung und ohne Ironie
auch in Bibliotheken nicht ganz unueblich - hat stets mehr bedeutet
als "Katalogisierung" und auch "access" ist in einem ziemlich breiten
Sinn gemeint. Spezialbibliotheken haben immer auch etwas "Dokumentation"
nebenher betrieben, etwa Aufsatznachweise oder "Katalogisierung"
besonders spezieller lexikon-artiger Loseblattpublikationen bis aufs
Einzelblatt hinunter ("X gehoert zum Fach - und wenn es da nur einen
Lexikonartikel gibt und sonst nichts nehmen wir den auf").

In grossen Bibliotheken mag die "Auskunft" eine Lotsenfunktion gehabt
haben zwischen den als fundamental verschieden aufgefassten Bereichen
"Katalog" und "Fachinformation" (CD-ROM-Datenbanken, lizensierte
Online-Datenbanken), in den Faellen, wo die "externen Datenbanken"
auch nur bibliographische Nachweise (im Gegensatz etwa zu "Fakten"
oder "Text") liefern, etwa bei fachspezifischen Aufsatzdatenbanken,
braucht es schon einen gewissen Grad der Sozialisierung, damit ein
Benutzer das akzeptiert.

Das "Internet" leistet nun der an sich wuenschenswerten Konvergenz
Vorschub:
- gewisse Datenbanken sind nicht nur recherchierbar, sondern bieten
  auch API's oder andere standardisierte Rechercheformen, so dass
  die /Einbindung/ von Suchen und deren Ergebnisse in "eigene"
  Angebote moeglich wird
- insofern macht es Sinn - analog der althergebrachten Infrastruktur
  bei der Monographien-Katalogisierung - diverse Dinge nicht selber
  zu autopsieren und dennoch anbieten zu koennen
- zusaetzlich gibt es (auf beiden Seiten) Anreicherungen, etwa Océrisierung
  von Inhaltsverzeichnissen oder Volltexte von Aufsaetzen, die einen
  erheblichen Aufwand bedeuten und daher am besten analog der Original-
  Katalogisierung kollektiv betrieben werden sollten bzw. von wenigen
  Quellen "bezogen" (mal abgesehen von der Rechte-Lage)
- die "Auskunft" kann die Benutzer ohnehin nur "greifen", wenn sie
  zur Tuer hereinkommen - wo zumindest die Recherchen aber vollstaendig
  elektronisch ablaufen ist das ein eher seltenes Phaenomen

Fast alles davon geht auch vom Workflow ueber das hinaus, was
klassische "Monographienkatalogisierung" leistet, auf die die
"bibliothekarischen" Regelwerke optimiert sind, und m.E. sollte
man es auch nicht immer "Kataloganreicherung" nennen, wenn durch
Nationallizenzen und anderes das Druckseiten-Aequivalent der
recherchierbaren Aufsaetze etwa den der "Monographien" im klassischen
Katalog (eBooks hin oder her) locker uebersteigt.

Das ist also die eine Seite - zu einem gegebenen "Katalog" weitere,
komplementaere, spezialisierte und notgedrungen(?) zentralisierte
Datenbanken hinzu zu ziehen, wobei die klassische Domaenengrenze
"Bibliothek" fast zwangslaeufig schon durchbrochen wird. Umgekehrt
kann man mit aehnlichen Techniken grosse Aggregate aufbauen, etwa
die Europeana: Interessant wird es dann, wenn die Bestaende nicht
unverbunden nebeneinander her gammeln, sondern sich Bezuege auftun.
Das ist aber auch ein paar Nummern kleiner als "Europaweit" ein
Desiderat, grosse Institutionen konnten z.B. genug Geld in die
Hand nehmen, um fuer Bibliothek und Archiv eine einheitliche
Software zu schnitzen (d.h. auch auf Ebene der bibliothekarischen
Hausregeln die archivarischen Belange genuegend zu beruecksichtigen),
fuer das Gros der Haeuser werden es aber verschiedene Bereiche mit
unterschiedlichen professionellen Standards bleiben - nur muessen
sie auch dort zusammenfinden.




> 2. Hergebrachte Regeln (RAK und AACR2), Datenstrukturen (MAB und MARC)
>    und auch Arbeitsweisen ("Titelaufnahme") werden durch formal und
>    funktional ganz andere, und nunmehr globalisierte, Konstrukte und
>    Verfahren (RDA, Bibframe, RDF, Linked Data, (teil-)automatisierte
>    Erschließung) in Frage gestellt und mit wenig Bedenken in die
>    Obsoleszenz geworfen. "Metadaten", vor Zeiten heiß diskutiert, sind
>    aber, für sich genommen, kein dominierendes Thema mehr.
>    Alles Neue ist losgelöst von den Vorstellungsbildern der Zettel,
>    Listen und alphabetischen Register und nur in IT-Systemen der
>    Jetztzeit funktionabel - mit unbekannter Halbwertszeit.

Hier kann ich Ihnen kaum folgen: RDA ist ein FRBRisiertes AACR2 und
FRBR selbst passt auch nur fuer die klassischsten aller klassischen
Monographien, ohne dass es beginnt zu quietschen und zu knarzen.
Das In-Frage-Stellen der Regelwerke und Datenformate geschieht m.E.
primaer durch die Wirklichkeit - gewandelte Publikationsformen und
Arbeitsablaeufe, die mehr Synergie wollen als durch das traditionelle
Copycat (/punktuell/ wird ein Datensatz geklont und fuehrt ab dann
ein Eigenleben). Man will also, dass "Ressourcen" auch durch
konkurrierende Regeln beschrieben werden koennen (Bibliothek und
Bibliographie, oder Archiv, oder Museum, oder "Agencies" mit unterschiedlichen
Sparchen), vor allem will man aber "Datensaetze", auch nachdem sie
"in Besitz genommen" wurden, von spaeteren Entwicklungen ihrer
Klon-Geschwister auf kontrollierte Weise profitieren koennen. Technisch
geht das eigentlich nur, indem man sie in kleinere, /adressierbare/
Teileinheiten aufdroeselt, dass dabei Einheiten abgespalten werden,
die fuer unterschiedliche "Records" wiederum identisch sind, ist als
"Normdaten" (hierzulande) kein neues Phaenomen.

Wir haben hierzulande eine Infrastruktur der ansatzweisen Top-Down-Verteilung
von Datensaetzen (DNB->Verbuende->Lokalsysteme), als aber die Verbuende
vor einigen Jahren begannen, staerker untereinander zu kooperieren
(meine RSWK-Erschliessungen zu Dir, Deine Rezensionsnachweise zu mir)
wurde es sehr aufwendig, es ging ja nicht nur darum, die Saetze miteinander
zu identifizieren (match), sondern genau zu steuern, welche Teile von
wo welche anderen Teile tendenziell ersetzen oder anreichern sollten
(merge). Idealzustaend waere aber, dass auch kleinere Institutionen mit
"ihren" Datensaetzen /kontinuierlich/ die Klassifikationsleistungen von
Institution X und die sonstigen Erschliessungen von Institution Y anzapfen
und sich ansonsten auf die Erzeugung ihres genuinen Mehrwerts konzentrieren
koennen.

Fuer die "Katalogisierung" (bzw. jeglichen Ort in einem Workflow) muss
jederzeit adhoc eine sinnvolle Auswahl solcher Teile als "Datensatz"
synthetisiert werden, um eine effiziente und konsistente Bearbeitung zu
ermoeglichen, in PICA gibt es m.W. stets die "integrierte" Bearbeitung von
Titeldaten und "meinen" Lokal- und Exemplardaten auf einem Schirm - also
eigentlich auch nichts voellig fremdes. RDF bietet - weitaus staerker als
MARC21 - die Moeglichkeit, Aussagen "unbekannter" Art transportieren und
aufbewahren zu koennen, bislang wurden sie guenstigstenfalls verworfen,
wenn meinem Intern-"Format" Felder fuer die entsprechenden Sachverhalte
fehlten, unguenstigstenfalls gab es Fehlermeldungen oder die Inhalte
wurden mit anderen verwurstet und muessen individuell dann "aufgeraeumt"
werden. Insofern gibt es notwendige und sinnvolle Ergaenzungen in den
austauschbaren Daten normalerweise erst dann, wenn ein Konsens in der
Gesamt-Community gefunden wurde und zentrale Gremien das Format entsprechend
weiterentwickelt haben, bei MARC21 immerhin halbjaehrlich mit verbindlichen
Umsetzungsfristen fuer *alle* Systeme, bei MAB2 nur alle paar Jahre bzw.
typischerweise unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze in Privat zu vereinbarenden
Feldern...

viele Gruesse
Thomas Berger



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