[Allegro] Vb349: Grundsätzliches zum Thema 'Migration' und zur KI

Bernhard Eversberg b-eversberg at gmx.de
Mo Jun 5 10:00:53 CEST 2023


Verlautbarung 349 zur allegro-Entwicklung                     2023-06-05

Grundsätzliches zum Thema 'Migration' und zur KI
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"Migration" wird nicht nur vom Biblio-Personal zunehmend priorisiert. 
Es kommt auch vor, dass neue Nutzer sich irritiert bis entrüstet äußern, wenn
sie in einer Bibliothek ein so "altväterliches" System vorfinden wie allegro.
Vergleich mit Google fiel schon immer ungut aus, und nun kommt
das Thema KI (z.B. ChatBot) noch hinzu - ergänzend dazu eine Randnotiz im Anhang 

Kurzer Blick zurück:
Bis etwa 1980 gab es für Suchsysteme keine Alternative zu alphabetisch
sortierten Konstrukten, zumeist Karteien und Nachschlagewerken. 

Die Zettelwirtschaft mit alphabetischer Ordnung war sehr lange für den 
bibliothekarischen Formalkatalog und andere Karteien alternativlos.
Die UB Bochum hat dann als erste keine Zettel mehr gedruckt und
sortiert, sondern jede Woche neue Bandkataloge im Format A3 ausgedruckt,
alles in Großbuchstaben (mehr konnten die "Schnelldrucker" nicht), aber
diese Kataloge waren immer noch alphabetisch geordnet. Man hatte noch keine
Datenbank, sondern ein offline-Dateien-Verwaltungs- und Verarbeitungssystem.

Und jetzt?
Niemand würde heute noch auf die Idee kommen, das Alphabet als Ordnungsmethode
in einem richtigen Datenbanksystem zu verwenden. Die aktuelle Jugend 
könnte nichts anfangen damit - man bringt ihnen das Alphabet nicht mehr bei,
und sogar die Lesekompetenz bröckelt jetzt. Wir können daran nichts ändern,
müssen aber publikumsfreundliche Angebote machen. Früher sagte man, wir
sollten "die Nutzer da abholen, wo sie stehen". Nun stehen sie auf Apps,
denen man sagen kann, was sie schreiben sollen, und die einem Texte
entziffern und vorlesen können.
Der Mensch ist nicht von Natur aus universell lernbegierig, sondern viele 
lernen mit Eifer nur das, was zu einem sicheren und amüsanten Überleben 
sein muss; bio- und ethnologisch ist das vollkommen plausibel.
Das ABC und sogar das eigenäugige Lesen länglicher Texte gehören 
da nicht (mehr) zu.

"allegro" war aus historischer Sicht, wie auch andere Systeme, ein
Interims-Lückenbüßer - mit seinen alphabetisch sortierten Indexdateien.
Die Computer und vor allem die Netze hatten noch keine Giga-Speicher
und keine hochleistungsfähige und ubiquitäre Vernetzung.
Die jetzt angesagten Systeme lösen sich nun gänzlich vom Althergebrachten.
Sie folgen zeitgemäßen Paradigmen, und zwar vor allem diesen dreien:

1. Intuitivität (lat. intuitus = Anblick; Anschaulichkeit; Einsichtigkeit)
    Anders gesagt: Die Aufklärung zieht endlich ein ins Katalogwesen: 
    Der eigene Verstand soll sofort klarkommen damit - ohne sich der
    Leitung eines anderen bedienen zu müssen. 
    (Die Bezeichnung "Katalog" wird längst als zu wenig intuitiv empfunden
     und ist zu sehr mit der Vorstellung von linearen Auflistungen konnotiert.
     Das "Entdecken" ist eine attraktivere Metapher, das hat auch die
     Produktwerbung längst entdeckt. Also her mit einem "discovery system".)

2. Direktheit (lat. directus = geradeheraus; Einfachheit)
    Das Wort "einfach" gehört einfach zum deutschen Kernvokabular; 
    keine Werbung für irgendwas verzichtet auf "ganz einfach" 

3. Immediatik (lat. immediatus = Unmittelbarkeit; Sofortigkeit)
    Das System serviert ohne gefühlte Wartezeit formal plausible
    "Treffer" - keine alphabetisch geordneten Namens- oder Wörterlisten,
    die man erst zu durchmustern hätte. (Freilich können Nieten unter
    den sog. Treffern sein, das nimmt man aber nicht weiter übel.)
    Oftmals werden schon während des Eintippens erste Vorschläge angezeigt,
    wodurch die Immediatik erst richtig Eindruck macht.

Mit zunächst 1. und 2. ist ab Sept. 1997 Google aus dem Stand 
    zum Idealbild des Suchsystems geworden - und geblieben.
    Nummer 3. ist inzwischen ebenfalls höchst eindrucksvoll realisiert.
     

Auch die neuen KI-Robots folgen den genannten Paradigmen. 

Doch darüber hinaus fehlt der KI jetzt noch eines, damit das 'I'
keine grobe Übertreibung ist:

4. Serendipität (lat. serenus = klar, heiter, gelassen)
   Engl. "serendipity 
     OED: "An aptitude for making desirable discoveries by accident"
           = "die Fähigkeit, zufällig wünschenswerte Entdeckungen zu machen"
   Darauf beruht eine wesentliche Komponente menschlicher Intelligenz:
       Erkenntnisfähigkeit,
         und damit auch Erfindungsgeist, Initiative, Vernunft 
    Ob die derzeitigen Technologien das Zeug dazu schon haben?


Nun aber ganz konkret noch was zum Thema Migration:

Hannover war wieder einmal eine Reise wert. Nostalgie kann
aufkommen, denkt man an die Hannover-Messe 1980: Die ersten
"Personal computers" waren da zu sehen, unter anderen der
Commodore 8032. 
  Wie der aussah? So: http://allegro-b.de/allegro-c/zeug/b04.jpg
Auf dem entstand die allegro-Urversion, mit
der die UB Braunschweig dann etliche Jahre Katalogdaten
erfassen konnte. Die Daten wurden von Kassette über das Akustik-Modem 
durch's Telefon dem Verbundzentralrechner eingespeist. 
In Göttingen wurden die Daten, schön ordentlich aufbereitet, auf 
Katalogzettel ausgedruckt. Deren große Zeit ist nun definitiv 
seit langem ein abgeschlossenes Kapitel. 

In der Mottenkiste gelandet ist jetzt aber eben auch das Alphabet. 
Am Anfang steht jetzt die verbale Frage, nicht mehr das ABC als Krücke
und Umweg - es hat für Suchsysteme und Nachschlagewerke überall ausgedient.

Migration weg von allegro kann also nebenbei nur heißen:
   hinweg mit alphabetischen Registern.

Koha kommt ohne ABC aus - Beispiele zum Ausprobieren findet man leicht. 
so aber auch FOLIO, dessen Fortschritte man in Hannover besichtigen konnte. 
Beide sind also zeitgemäß tauglich.
Wer nicht in Hannover war, kann immerhin ganz einfach mit "hands on" 
selber gefahrlos ins gar nicht so kalte Wasser springen und das neue
"look and feel" kennenlernen:
 
     https://folio-demo.gbv.de/

Tip: Rechts oben auf "Apps" klicken und ganz unten "Katalog" wählen.
Dann in das Suchfeld oben links z.B. "Datenformate" eingeben und 
schauen, was rauskommt und was man damit so alles machen kann.
Oder z.B. "the" eingeben - das klappt - Stoppwörter sind auch out!
(Eine Hilfe für die Suche scheint noch zu fehlen, z.B. ob und
wie Trunkierung geht findet man nicht selber raus)
Die Titelanzeige ist pragmatisch - ISBD ist ja auch etwas gestrig.

Nebenbei:
Im engl. Folio-Original steht "Inventory" statt "Katalog".
Das liegt daran, dass die Ursubstanz von Folio ein
Hochschul-Verwaltungssystem ist, und ein solches umgreift
das gesamte Inventar einer Hochschule, von den Immobilien
bis hin zum Personal. Bücher sind selbstverständlich Inventar,
erkannten die FOLIO-Macher, ergo gehören auch sie in FOLIO.
Zumal "Folio" (lat. folium = "Blatt") ein historisches Buchformat ist 
und der "Foliant" das materielle Paradigma des schwergewichtigen 
wissenschaftlichen Buches.
Man kann neue Titelsätze eingeben, wie man aber Korrekturen macht,
habe ich noch nicht raus. Bin halt schon Rentner.

Also, kein Zögern jetzt und kein Zaudern! Aufspringen auf den
Zug der Zeit und dabeisein beim vielleicht größten Abenteuer der 
deutschen Bibliotheksgeschichte. 

Anm.
Millionen gescannte UND OCRisierte Bücher liegen schon bereit, 
das Potential der KI zu bereichern und deren Annäherung zu 
fördern an das Ideal einer automatisierten Serendipität. 
Wird sich KI damit aber aufschwingen können in das Reich der 
reinen und nicht nur der praktischen Vernunft, welche sich 
allein aus Erfahrung speist und moralisch akzeptables Verhalten
unterstützen soll, die aber nicht transzendente Fragen stellen kann 
wie  "Was ist, was soll und was braucht der Mensch - und was nicht?"
Von Antworten und deren Konsequenzen ganz zu schweigen. Fortschritte
bei diesen Themen könnten nicht nur dem Menschen jetzt soo helfen...

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Randnotiz:  

ChatGPT wurde mit folgender Frage auf die Probe gestellt:

Wer hat geschrieben: "Schöner Schein, der ewig trügt! Glücklich wird, der sich begnügt."?

Antwort wenige Sekunden später, in untadeligem Deutsch: (am 4.6.2023)

Der Satz "Schöner Schein, der ewig trügt! Glücklich wird, der sich begnügt." wurde von 
Johann Wolfgang von Goethe geschrieben. Er stammt aus seinem Drama "Faust" und findet 
sich im ersten Teil, genauer gesagt in der Szene "Abend".

Das stimmt nicht. Die Szene "Abend" gibt es, aber das Zitat kommt nicht drin vor.
Es steht hier - wo es Google auf Anhieb findet:
  https://bibservices.biblio.etc.tu-bs.de/pipermail/allegro/2005-May/021924.html

Dies zeigt immerhin, dass ChatGPT nicht prioritär auf Google vertraut, von jenem aber
sehr wohl noch was lernen könnte. 

Und es stimmt einen natürlich missmutig, wenn ein eigener Text fälschlich einem anderen
zugeschrieben wird, der schon genug Lorbeeren geerntet hat!
  
B.E.
 




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