[Allegro] Kulturtechniken im Wandel - Was wird aus Bibliotheken?

Bernhard Eversberg b-eversberg at gmx.de
Di Dez 19 11:09:54 CET 2017


                 Kulturtechniken im Wandel - Was wird aus Bibliotheken?
                             Besinnliches zur Jahreswende

Ein Sinti-und-Roma-Baron in der gleichnamigen Johann-Strauß-Oper leitet seine
Vorstellung ein mit folgenden Worten:

  Das Schreiben und das Lesen
  ist nie mein Fach gewesen.
  ...

Diese kulturtechnische Grundhaltung konnten sich nur kleinere Gesellschaftskreise,
vornehmlich der Adel, früher einmal leisten. Schon Carolus Magnus hatte für's Lesen
und Schreiben seine Leute und sparte sich so den langwierigen Erwerb eigener 
Kompetenz in dem Fach - zugunsten seines Engagements in der ganz hohen Politik.

Heute gelangen dank Software größere Kreise in den Genuß, ihren Lernaufwand 
minimieren zu können. Denn nach sehr langen Anläufen ist nun Künstliche
Intelligenz (KI) befähigt, aus den Softwareschmieden heraus immer schneller immer
größere Bereiche der wirklichen Realität infiltrieren zu können. 
"OK Google:" braucht man nur zu seinem Telefon zu sagen, "Was heißt 'zwei Bier'
auf Spanisch?", oder: "Wie schaut's aus mit Schnee in St. Moritz?"

Doch so etwas ist bloßes Vorgeplänkel zu weitaus anspruchsvolleren Leistungen, die
auf uns alle zukommen, nicht nur auf die da oben. Hier sei ein ganz knapp gefaßter
Versuch gewagt, das Potential auszuloten.

Zuerst ein geistesgeschichtlicher Blick zurück:

Das Verständigen von Mensch zu Mensch begann nicht mit dem Schreiben und dem Lesen,
das ist klar, aber auch nicht zuerst mit dem Sprechen und Verstehen, sondern mit
dem Zeigen. Andere Primaten nutzen den zum Zeigen gedachten Finger noch immer nicht
oder nur selten zu dem Zweck, ihre Gefährten auf etwas aufmerksam zu machen. Aber
Menschen haben den Nutzwert des Zeigens und dann auch anderer Gestik und Mimik
irgendwann erkannt und dann ausgiebig genutzt. Die Entstehung des Daumens
hat ferner zuerst das Greifen möglich gemacht und dann die Nutzung der Hände als
Werkzeuge, und nicht nur dieser selbst, sondern immer mehr auch das Handhaben von 
Gegenständen und das Verfertigen von noch besseren Werkzeugen. Dabei ergab sich's 
ganz zwanglos, daß Lautäußerungen hinzukamen: zuerst um die Aufmerksamkeit anderer
zu gewinnen und zu lenken, dann allmählich differenzierter, mit mehr Sinngehalt. 
Besonders die Instruktion des Nachwuchses im Werkzeug- und Waffengebrauch 
wurde durch akustische Beiträge ganz erheblich verbessert. 
Aber erst eine Entkopplung der oralen Laute von den Bewegungen der Hände führte zu 
einer epochalen Wende. Noch immer haben nicht alle Menschen diesen Schritt ganz 
vollzogen, sondern gestikulieren expressiv beim Sprechen! Und eben gerade 
machte Apple mit dem iPhone X scheinbar einen Schritt zurück, indem dieses Gerät 
allein mit Gesten zu steuern ist und vorwiegend graphisch mit dem Nutzer kommuniziert.

Als noch allein das Zeigen geholfen hat beim zwischenmenschlichen Austausch,
da entstanden wohl irgendwann auch das Malen und die ersten Bilder, und zwar noch 
vor der Sprache. (Soviel kann als sicher gelten, haben doch Höhlenmalereien 
allesamt keine Sprechblasen.) "Graphische Kommunikation", das heißt mit Bildern, 
die dem Betrachter einen Fingerzeig geben - das ist demnach ein nochmals erweitertes 
und entpersonalisiertes Zeigen, das ohne Finger auskommt.

Eins wüßte man nur zu gern: Wer wann und wo als erster mit dem Sprechen angefangen hat.
Denn der hat damit nichts weniger als die Geistesgeschichte dieses Planeten eingeläutet.
Man weiß es aber nicht, und man kann es auch nicht wissen.
Denn damals konnte noch keiner schreiben und den Moment für die Nachwelt festhalten.
Das Schreiben und das Lesen, diese Kulturtechniken entstanden sehr viel später.
Zuerst das Schreiben, versteht sich, denn erst danach gab's ja Lesestoff und damit
den Anreiz, das Lesen zu lernen. Ganz nebenbei: In Italien kursierte mal das Gerücht, 
die Carabinieri träten immer zu zweit auf, weil der eine nur schreiben und der andere
nur lesen könne. Eine schlaue Arbeitsteilung, die noch ganz ohne Technologie
auskam. Um so etwas geht es nun aber nicht, sondern um weitaus wirkmächtigere Dinge.

Festzuhalten ist: Das abgedroschene Wort "Im Anfang war das Wort", das hat eigentlich
schon was - wenn man das gesprochene meint! Das *Sprechen* ist das wirklich Wichtige,
das Primäre und sehr sehr lange Zeit einzige Kommunikationsmedium. Schreiben und 
Lesen wären ohne Sprache nutzlos, Sprache ohne Schrift aber auf laengere und globale 
Sicht nur begrenzt wirksam.
Allerdings und leider hat Schrift, und das gilt für jede Sprache, ein ganz 
gravierendes Defizit:
Schrift ist äußerst abstrakt. Schrift versucht, etwas abzubilden, das oftmals gar 
kein Gegenstand ist, von dem man ein Bild machen könnte! Eine Lautäußerung mit 
Schrift zu verbildlichen, das stellt hohe Ansprüche an den, der es tut, und ebenso das 
Rückwandeln der Abbildung in gesprochene oder gedachte Worte, also das Lesen. Dabei
ist Denken nichts anderes als Sprechen ohne Laute - beides entstand wohl zugleich,
aber wenn nicht, dann das Denken ganz sicher später. Noch im Mittelalter wurde
meistens laut gelesen, auch ohne Publikum. "Wie kann ich wissen, was ich denke",
so geht ein subtiles Diktum, "bevor ich höre, was ich sage?".

Nun ist zwar sowieso auch ein richtiges Bild nie identisch mit dem, was es zeigen soll. 
Im Falle der Schrift ist der Unterschied aber extrem. Deshalb kann das Lesen - also
die Rückwandlung der abstrakten Abbildung in Sprache - prinzipiell nicht zu genauer 
Deckung kommen mit dem, was das Geschriebene abbilden wollte, aber eben nicht 
wirklich exakt konnte.

"Worte sind Schatten!" hat einmal Eugen Gomringer ausgerufen, Schriftsteller und 
Begründer der "Konkreten Poesie". Das war ein Ausbruch des Unbehagens an der 
Unzulänglichkeit von Text auf Papier. Er schlug damit schon in den 1960iger
Jahren in dieselbe Kerbe, die wir hier bearbeiten. Lebendig ist nur die gesprochene
Sprache! Jede denkbare Verschriftung und damit unweigerlich Verflachung wird 
nur einen unscharfen Schattenwurf bieten, der die räumliche Tiefendimension und
Vielschichtigkeit des Gedachten oder Gesagten einfach nicht transportieren kann.

Aber nun der Blick nach vorn:

Brutal nüchtern gesagt: Schreiben und Lesen sind Krücken! Keine Flügel, auf denen 
der so rasch verfliegende Gedanke sich ungeschmälert durch Raum und Zeit bewegen
könnte. Und weil Sprache virulent dynamisch ist, Schrift aber statisch, oxydiert 
Geschriebenes irgendwann zur Unlesbar- oder Unverständlichkeit. Fast alle alten 
Bücher bis weit ins 19. Jh. kann heute kaum noch wer lesen, und wenn, dann nur
unvollkommen oder gar nicht mehr verstehen. Das Bemühen um Verständnis der nur 
geschrieben vorliegenden Aufzeichnungen verschlingt immer mehr Zeit, die abgeht
von der Verfolgung des eigenen Lebenszwecks. So kann's nicht lange mehr weitergehen.

Auf dem Weg hin zu einer Sprachkultur 2.0 als Überwindung der Schriftkultur ist man
mittlerweile ein gutes Stück vorangekommen. Es wird jetzt schon z.B. den Kleinkindern
verheißen, daß sie nicht mehr in einem jahrelangen, mühseligen Prozeß sich eine 
Handschrift werden erwerben müssen. Aber das wird nicht der einzige Schritt bleiben. 
Auch Tastaturen werden obsolet, sobald das Sprachverständnis der Systeme 
vervollständigt ist - man denke nur an "Alexa" und "Cortana" als jetzt schon tätige
und viel versprechende Prototypinnen.

Die Ansichtskarte - wer kennt sie noch, wer schickt noch welche? - war schon ein Vorbote 
der Dinge, die nun unübersehbar nach vorn drängen. Denn sagt nicht ein Bild mehr als 
1000 handgekritzelte Worte? Jeder sendet nun situationsbezogene Bilder und Kurzfilme. 
Die Selfies, ein ganz neues Genre, machen es zudem möglich, die elektronische 
Bildpostkarte weit wirkungsvoller zu personalisieren, als die Worte auf der Rückseite
es je erlaubten - und 1000 Stück paßten da eh nicht drauf. Und das wenige, was immer 
noch schriftlich ausgetauscht werden soll, das kommt allermeist mit höchstens 140 
Zeichen aus, und sei es auch von Staatsoberhäuptern an das Volk adressiert.

Mit dem ganzen Dilemma vor Augen wird einem klar, daß die Chance der KI letztlich darin 
liegt, die Krücken loszuwerden, den hinderlichen Zwischenschritt der Abstraktion zu 
überwinden : Man *sagt* dann einem KI-System, was man festhalten möchte für andere und 
für die Nachwelt. Und man *fragt* ein KI-System nach allem, was man wissen muß oder 
möchte und bekommt die Antwort zeitgemäß ausgedrückt, nicht ausgedruckt. Und zwar in 
der eigenen Muttersprache *gesagt*, nicht schriftlich zum Entziffern und Enträtseln 
auf's Papier oder Display hingeworfen - das hatte ja eben auch Leuten wie dem genannten 
Baron schon immer wenig  geholfen, und das steht recht besehen gegen Chancengleichheit 
und ist damit undemokratisch.

Was bedeutet das alles für unser Selbstverständnis, für unser Menschenbild, für die
Kompetenzen, die der *noch* modernere Mensch brauchen bzw. nicht mehr brauchen wird?
Und was bedeutet es ferner speziell für uns als Bibliothekare, die Sammler und 
Bewahrer von Schriftzeugnissen, die nun als Hinterlassenschaften einer Übergangsepoche
Staub sammeln werden?
Ein weites Feld von Fragen tut sich auf, wenn man den Megatrend weiterdenkt.
Zu einem Ende wird man da so bald nicht kommen, aber wagen wir mal einen gar
nicht soo gewagten Ansatz für eine gar nicht ganz lange Sicht:

Spoogle!

Das wäre ein passender Name für ein KI-Suchsystem, das die rapide wachsende
Sprachkompetenz der KI nahtlos integriert mit der Findekompetenz von Google.
Auf Englisch natürlich Loogle, auf Niederländisch Toogle, auf Polnisch Joogle, 
Doogle auf Türkisch, Koogle auf Finnisch, Estnisch und Litauisch, usw.
Man wirft Spoogle nicht einfach ein paar Wörter hin, man spricht mit ihm, und es
respondiert - und lernt fortwährend mit den Rückfragen und allen Äußerungen,
die man anschließend verbalisiert, es präzisiert und bereichert sein Wissen und
vergißt nichts. Es lernt nicht zuletzt auch, sein jeweiliges Gegenüber im 
Hinblick auf geistiges Potential einzuschätzen und daraufhin seine eigenen
Äußerungen passend zu kalibrieren. Aber auch, seine Erkenntnisse sachgerecht zu
archivieren! Man editiert ja längst keine Briefsammlungen einer/s Gelehrten mehr. 
Ein elektronisches Archiv aller medialen Äußerungen ist ungleich besser geeignet,
die global vernetzten Gedankenströme dynamisch zu visualisieren - man stelle 
sich das mal für jemand wie Leibniz vor! Dessen output könnte man instantan 
strukturell transparent machen und in alle Richtungen analysieren: "Wie vor uns 
ein großer Mensch gedacht, und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht".

Einige wenige, wie der eingangs zitierte Baron und Karl der Große, kamen zwar 
schon immer ohne eigene Schreib- und Lesekompetenz aus, aber erst jetzt bahnt 
sich eine epochale Wende an. Und die wird den Bibliotheken wohl allenfalls 
eine Weiterexistenz als Museen oder Kuriositätenkabinette noch belassen. Der 
Schreibwarenhandel aber und die Schulbuchverlage müssen sich noch wärmer 
anziehen - wie schon länger die Ansichtskartenverkäufer. (Nebenbei: Die sind
bereits weitgehend umgestiegen auf den Vertrieb von Kühlschrankmagneten. Es
soll da schon vernetzbare Varianten geben, denen man Bilder und Filmchen 
zuschicken kann. Kleiner Denkanstoß zum Thema Synergie-Effekte! Denn der
Kühlschrank selber, der hat ja auch schon mehr Potential als nur das Kühlen 
und das Bewahren!)

Der Baron aber wird sich fernerhin in der hochtechnisierten Welt 
gänzlich unbeschwert seinem idealen Lebenszweck hingeben können:

  http://www.planet-vienna.com/Musik/Operette/Texte/schweinespeck.htm

In diesem Sinne : Frohes Fest, und macht hoch die Tür für Cortana und Alexa!

B.E.




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