[Allegro] Think "Different" war: VuFind 2.3 : Neue Implementierung wird vorbereitet

Thomas Berger ThB at Gymel.com
Mo Aug 18 13:25:22 CEST 2014


Lieber Herr Goedert,

Am 15.08.2014 um 21:37 schrieb Winfried Gödert:
> Liebe Allegro gelistete,

> [...]

ich muss zugeben, dass sich Ihr Begriff von Ordnung, wie er in Ihrer
Mail genutzt wird, meinem Verstaendnis entzieht - irgendwie schillert
er stark, und auch dort, wo Sie sich ausdruecklicher auf die alphabetische
Ordnung beziehen, scheinen die Nebenbedeutungen noch mitzuschwingen.

Im Bereich "Nachlaesse und Autographen" besteht die Erschliessung
(eines Bestands) aus "Ordnen und Verzeichnen": Dabei ist "Ordnen"
zunaechst ein Ein-ordnen der Bestandteile (Gruppen und Einzelobjekte)
in eine gewisse Struktur, sowohl fuer die Aufstellung als auch fuer
die Findbuchproduktion, die ueblicherweise beide die Ordnung nutzen,
kommen dann Aspekte der An-ordnung ins Spiel, der klassische Ansatz
ist ja, eine gegebene Menge von Dingsdas regelhaft in eine absolut
determinierte Reihenfolge bringen zu koennen.

Die Ordnung (als Zustand) ist dabei einerseits Ausgangsbasis als auch
Ergebnis der Ordnung (als Taetigkeit): Es wird unterstellt, dass
ein Bestand nicht amorph ist (bzw. in die Menge der Einzelstuecke
ohne weiteren Bezug zueinander zerfaellt), sondern anhand formaler,
funktionaler, chronologischer oder sonstigen Kritierien /gliedern/
laesst, und so gebildete Gruppen sich dann ueblicherweise auch
weiter unter-gliedern lassen. Im Allgemeinen existiert eine (zumindest
intendierte) Ordnung bereits, wenn das Archiv einen Bestand uebernimmt,
die Aufgabe ist dann "nur", diese zu rekonstruieren (sofern die
vorgefundene Ordnung "brauchbar" ist).

Kuehnel < http://archive20.hypotheses.org/1758 > arbeitet heraus,
dass /funktionale/ Aspekte im Vordergrund stehen, auch wenn das
lange Zeit nicht unbedingt erkannt worden ist und stellt den Vorrang
"der" Ordnung (des Findbuchs) zur Disposition: Gleichberechtigte
Ordnungssysteme sind denkbar, sogar adhoc-Ordnungen in einem
spezifischen Recherchekontext (wobei wir eigentlich wieder beim
facettierten Browsen sind?). "Funktional" verstehe ich hier als
Eindeutschung des englischen "functions" tendenziell weiter gefasst
als das deutsche "Funktionen", insbesondere "Zweck" und "Intention"
sind hier wohl einbegriffen.

Technisch wird Ordnung in klassischen Archiven durch Baumstrukturen
abgebildet (entsprechend EAD als digitaler Version eines klassischen
Findbuchs mit Inhaltsverzeichnis etc.), in nicht-ganz-so-klassischen
Situationen auch gerne im Sinne einer (bestandsbezogenen!) Klassifikation
(auch hier also ein monohierarchischer Ansatz, Aspekte der An-Ordnung
sind aber staerker in den Hintergrund gerueckt), der eine Ansatz
scheitert, wenn es polyhierarchisch wird oder mehrere Ordnungen zu
dokumentieren sind, der andere weiss nicht mit Konvoluten oder
Boxen umzugehen, die einerseits Ordnungselement sind, andererseits
aber durch ihre Materializitaet selber noch Objekte der Beschreibung
sind.

Den Ansaetzen gemein ist, dass /universelle/ Ordnungskriterien
eigentlich nicht existieren, auch wenn Archive gerne alle Bestaende
nach Schema eff erschliessen (und daher ueberall eine Gliederungs-
einheit "Korrespondenz" besteht), /und/ klassische Archive ueber
die "Tektonik" ihre Bestaende als solche in ein analoges hierarchisches
System einordnen: Immerhin ist dann determiniert, dass Brief X
aus Bestand A vor oder nach Brief Y aus Bestand B /sortiert/,
es gibt aber keine Situation, wo Vorlagen aus verschiedenen Bestaenden
bezueglich der Ordnung zusammenfallen oder auch nur "nah" beieinander
stehen.

Bibliotheken hingegen negieren traditionell den Kontext ihrer
Ressourcen, jegliche Erschliessung erfolgt (ausschliesslich)
anhand der Vorlage und ist damit automatisch universell, das
betrifft sowohl Formal- als auch Sacherschliessung, sogar die
Signaturenvergabe (abgesehen von individualisierenden Bestandteilen).
Bzw. universell wird es letztendlich erst dadurch, dass die
Regelwerke nicht nur die minimale Erschliessung vorschreiben,
sondern auch die maximale ("Du darfst /nicht/ ..."), in den
RAK meist so weit, dass kein Spielraum blieb (ausser bei
Kuerzungen innerhalb eines transkribierten Elements und bei
der konkreten Formulierung von Fussnoten). Die RDA schrauben
einerseits die Anforderungen fuer das Minimum herunter, und
kippen einige (alle?) Regeln fuer eine Beschraenkung des
Maximums, die spezifischen Regeln fuer eine Anwendungsschicht,
etwa D-A-CH schrauben das Minimum wieder hoch (versuchen m.W.
aber nicht die Wiedereinfuehrung von Maxima durch die
Hintertuer). D.h. fuer mich bedeutet dies, dass nun eine
Bibliothek in Hinblick auf die Groesse und Eigenheiten des
eigenen Katalogs (bzw. eines fuer die Vorlage relevanten
Teilbereichs) ueber die Ausfuehrlichkeit der Erschliessung
entscheiden darf. Ich sehe da noch einen gewissen Zusammenhang
zur "Ordnung", die Beschreibung eines Einzelobjekts sollte
m.E. so reichhaltig sein, dass seine Einordnung (diverse
Sacherschliessungen etc., aber auch *warum* der Titel ueberhaupt
im Bestand ist) einem Betrachter vermittelt werden kann...

Diese "Erschliessungstiefe" betrifft nicht nur die Menge
bzw. Ausfuehrlichkeit der Verzeichnung (eins, drei, siebzehn
Verfasser phyiskalischer Aufsaetze, oder Herausgeber von
Festschriften, alle Solisten bei Musikalien, ...), sondern
auch ihre Differenziertheit: Vermutlich gerade weil "Drucke"
ein eigentlich ziemlich homogenes Material darstellen,
versuchen Regelwerke und Datenformate (Klassifikationen
und Schlagwortsysteme sowieso), eine vollstaendige Beschreibung
zu regeln. D.h. wir kennen Verfasser, Herausgeber, Beitraeger
und noch ein Dutzend weitere als Funktionen (je nach Format
sind das einzelne Felder oder normierte Attribute, generell
hat MAB / "unsere" Tradition eine Praeferenz differenzierter
Felder und MARC21 praeferiert spezifische Attribute fuer
eher unspezifische Felder um dasselbe auszudruecken), und
zwanzig verschiedene Fussnotenarten fuer verschiedene Aspekte
des Bemerkenswerten. Obwohl es auch den unspezifischen
Mitarbeiter und die unspezifische Fussnote gibt, behaupte ich
einmal, dass das Ausdruck einer "Closed world assumption" ist:
"Was nicht vom Regelwerk geregelt wird ist nicht relevant
und soll nicht verzeichnet werden". Die FRBR relativieren
ihren Anspruch auf bibliothekstypische Materialien (und implizieren
eine bibliothekstypische Sichtweise ohne Anspruch auf Universalitaet),
die RDA hingegen setzen nach meinem Eindruck die auch uns nicht
fremde AACR2-Tradition fort, eine geschlossene Weltsicht fuer
alle Materialarten vorzuhalten, die in Bibliotheken gesammelt werden,
darunter kulturelle Objekte unikaler Natur wie historische
Globen und Buecherschraenke sowie jegliche Sammlungen von "Flachware".
BIBFRAME hingegen will sich von so einer "closed world assumption"
endgueltig loesen: Wenn etwas (fuer mich) wichtig ist, soll ich
in der Lage sein, dass zu formulieren, und zwar sogar moeglichst
in einem fuer diesen Sachverhalt bereits etablierten Vokabular,
auch wenn das ein nichtbibliothekarisches ist! Vehikel dafuer ist
RDF, das sowieso nicht interessiert, wieviele verschiedene
Vokabulare ich einsetze. Aber auch in Schema-basiertem XML koennte
man Strukturen bauen, die das *X*tensible ausnutzen und an gewissen
Stellen den Wechsel von einem Namespace in einen frei gewaehlten
anderen erlauben.

Wenn ich etwa eine umfangreiche graphische Sammlung fachgerecht
verzeichnen will, kommen die unterschiedlichen kuenstlerischen
Techniken ins Spiel, die sich auch in differenzierten Funktions-
bezeichnungen niederschlagen, "normale" Bibliothekare werden
das nicht leisten koennen, Diskussionen auf der RDA-Liste zeigen,
dass es in vielen Faellen das Beduerfnis gibt, Zwischenebenen
der Kategorisierung einzuziehen zwischen dem absolut unspezifischen
und der nur von Fachleuten leistbaren wissenschaftlich exakten
Zuordnung: Also ein hierarchischer Thesaurus von (Codes fuer)
Funktionsbezeichnungen oder anderen Beschreibungselementen, die
eine /fallweise/ Ausdifferenzierung ermoeglichen. Traditionelle
Regelwerke, aber auch FRBR und RDA zeigen aber noch keine Ansaetze,
dies zu thematisieren. Meines Erachtens spielt auch hier "Ordnung"
herein, allerdings auf einer anderen Ebene: Bibliothekarische
Regeln setzen voraus, dass das zu Beschreibende einer "geordneten"
Welt entspringt, und dass diese Ordnung den Katalogisierern
bekannt ist, die daher in der Lage sind, die individuelle Vorlage
in eine regelhafte Beschreibung zu transformieren, in der sich
die Ordnung durch die Ausnutzung der differenzierten Beschreibungs-
kategorien manifestiert.


> Ich kann weder die Grundaufgabe einer Formalerschließung nach professionellen
> Standards noch die Notwendigkeit in Frage stellen, mit verschiedenen
> Ordnungsprinzipien vertraut sein zu müssen. Damit verbindet sich unmittelbar der
> Nutzen, den normierte Daten für die Konsistenz von Ergebnissen bringen können
> und die damit verbundenen Bemühungen um Standardisierungsgrundsätze und
> Datenformate. Als größtes Defizit in der Entwicklung der Formalerschließung sehe
> ich eigentlich die mangelnde Repräsentation und Nutzung struktureller
> Zusammenhängen zwischen den zu beschreibenden Entitäten. Mit den FRBR wurde ein
> bemerkenswerter Ansatz gemacht, diesem Defizit entgegen zu wirken. Wie darf man
> erklären, dass dieser Ansatz in der Profession so wenig Widerhall findet, obwohl
> sein Nutzen für die Gestaltung von Suchfragen und Ergebnismengen in
> Pilotprojekten doch demonstriert werden konnte? Wird dieser Ansatz als nutzlos
> oder nur als zu anspruchsvoll empfunden? Soll RDA FRBR-basiert mit Option auf
> freie Relationierung oder anweisungsorientiert als Regelwerk gedacht werden? Ist
> die kollaborative und freihändige Übermittlung nicht normierter Einzeldaten in
> die Cloud die richtige professionelle Perspektive?


Diesem ihrem vorletzten Absatz kann ich halbwegs folgen, vor allem wo da
das Wort "Repraesentation" vorkommt. Mein Eindruck ist aber beispielsweise,
dass alleine die Tatsache der internationalen Regelwerksentwicklung
uns die Grenzen "normierter Daten" (insbesondere "authorized headings",
AAPs etc.) aufgezeigt hat. Und dass das Denken in Entitaeten bzw. die
konkrete Nutzung von Normdaten uns Wege zeigen, diese Grenzen zu
ueberwinden: Wenn ich mich mit anderen darueber verstaendigen kann, dass
"Goethe's Werke" von /dem/ Goethe ist, dann benoetige ich nicht mehr
eine Regelung fuer alle Bibliotheken in diesem Sektor der Milchstrasse,
was die Setzung von Nichtsortierzeichen um das "von" im Namen angeht.
So wie ich die RDA-Entwicklung mitbekommen habe, laeuft da derzeit einiges
schief: Einerseits wird unter Rueckgriff auf FRBR bzw. vor allem auf FRAD
betont, dass /identifizierende Daten/ zu sammeln sind. Und andererseits
wird viel Energie darauf verwandt, die eigentlich nur als /Option/
vorgesehene (und bei Personen hierzulande nur in den RSWK praktizierte),
traditionelle Variante des Bauens eindeutiger Ansetzungen auszubauen, was
einerseits Zeichenketten produziert, die als *Daten* voellig unbrauchbar
sind und andererseits massive logische Probleme mit sich bringt, da
"bestandsgebundene Eindeutigkeit" und "Aufnahme in eine tendenziell
offene Normdatei" einander beissen, insbesondere unter den wenig
explizit gemachten Vorstellungen darueber, ob solche Ansetzungen
retrospektiv ausdifferenziert werden duerfen oder sollen...

Wenn ich einmal FISO und welche im Laufe der Jahrhunderte noch geaeusserten
Prinzipien ganz abstrakt nehme, dann bleibt fuer "Formalerschliessung"
vielleicht folgendes:

- Die Repraesentation einer Vorlage durch ein elektronisches Surrogat
  ("Record" oder nur ein "Identifier") vornehmen, egal ob frisch
  angelegt oder vorgefunden

- Diesen Vorgang dokumentieren und nachvollziehbar machen (ich brauche
  das "Fleisch" eines Scans oder transkribierter Elemente und u.U.
  auch Provenienzinformation um auch spaeter noch einmal entscheiden
  zu koennen, ob dieselbe oder eine andere Vorlage durch etwas
  vorhandenes repraesentiert wird)

- Mittels Weltwissen oder spezialisierten Instrumenten muss ich den
  Befund in /Daten/ umwandeln, also Datierungen herausarbeiten,
  den Bezug zu Personen und Koerperschaften identifizieren und
  hinterlegen (warum nicht auch zu Verlegern und Druckern), in
  einer besseren Welt wuerde ich sogar dies dokumentieren und
  belegen (dieser Mark Twain als Verfasser von "Huckleberry Finn"
  ist der Mark Twain als Verfasser von "Tom Sawyers Abenteuer"
  in anderen Vorlagen weil ....)

- Genauso muss ich den Bezug zu anderen "Gruppe-1-Entitaeten"
  herausarbeiten, nicht nur die logischen Schichten des W-E-M-I
  Modells, sondern auch die verschiedenen der Vorlage entnehmbaren
  Relationen (In-Vermerke, Gesamttitel, Rezensionshinweise, ...):
  Bisherige Daten leisten das (also die Abbildung einer Relation
  als /Daten/, nicht nur als formulierten Text) m.W. nur beim
  Bezug von Stueckaufnahme zu Gesamttitel (hierzulande auch bei
  Bandauffuehrung zur uebergeordneten Aufnahme).

- Das Verhaeltnis von "Formalerschliessung" und "Sacherschliessung"
  gehoert auf den Pruefstand: Konzepte im Sinne von Klassen sind
  schwierig, auch wenn die Vorlage auf jeder Seite fuenf Mal
  "Klassizismus" sagt, braucht es evtl. einen "wissenschaftlichen"
  Bibliothekar um zu entscheiden, dass es nicht der "Klassizismus"
  aus der bevorzugten Beschreibungssprache ist. Umgekehrt konnte
  aber selbst ein Aufsatz, in dem es komplett um Zuordnungsprobleme
  eines MA Notnamen-Meisters oder die hundertjaehrige Geschichte
  einer Koerperschaft geht von der Formalerschliessung abgehandelt
  werden: Natuerlich kann es unendlich schwierig werden oder auch
  unloesbar sein, zu einer korrekten Identifizierung zu kommen,
  andererseits mach ja hier der Verfasser der Vorlage die meiste
  Vorarbeit, im Gegensatz zu "typischen" Aufgaben der Formal-
  erschliessung, naemlich ohne weitere Hilfe den "Peter Mueller"
  einer chemischen Veroeffentlichung mit dem "Peter Mueller" einer
  Dissertation von vor fuenf Jahren zu vergleichen...
  Eine Trennung a la "Formalerschliessung fuer Gruppe-2-Entitaeten"
  und "Sacherschliessung fuer Gruppe-3-Entitaeten" waere eine
  Naeherung, bereits in den FRBR erfolgt da aber ein gewisses
  Geschubse (etwa Veranstaltungen als Einzelereignisse werden aus
  Gruppe 3 zu Gruppe 2 promoted, denn in Koerperschaften
  transformiert sind sie traditionell Objekte der Katalogisierung...)
  und nicht jeder Bezug zu Gruppe-1-Entitaeten ist "Formalerschliessung"

viele Gruesse
Thomas Berger



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