[Allegro] Think "Different" war: VuFind 2.3 : Neue Implementierung wird vorbereitet

Winfried Gödert winfried.goedert at fh-koeln.de
Fr Aug 15 21:37:38 CEST 2014


Liebe Allegro gelistete,

der im zweiten Teil der Bezugsmail von Herrn Eversberg angerissene 
Diskussionsgegenstand ist von so allgemeiner Bedeutung, dass ich mich 
traue, ohne jeden Allegro-Bezug ein paar quere Gedanken beizusteuern. 
Als Vertreter der inhaltlichen Erschließung unterliege ich vielleicht 
nicht dem Verdacht, formale Ordnungsprinzipien um ihrer selbst Willen zu 
betrachten. Als Vertreter der Ausbildungsfraktion muss und will ich 
zudem anderen die Sinnhaftigkeit von Ordnungsüberlegungen näher bringen, 
getreu dem Motto: Man muss nicht ordnungsliebend sein, man muss Ordnung 
nur als Problem empfinden.

So fällt es mir nicht schwer, in der an Zwecken orientierten Betrachtung 
des Spektrums von Ordnungsprinzipien eine übergeordnete Ebene zu sehen, 
die nicht vordergründig durch den Zeitgeist in Frage gestellt wird. 
Zweckbindung, medialer und technischer Kontext lassen sich doch an den 
historischen Entwicklungen im Bereich der Formalerschließung gut erkennen.

Eine Bindung zwischen den Prinzipien für die Erschließung und der für 
die Ordnung war doch nur so lange sinnvoll, wie der Fokus auf eine 
einzige Ausgabeform gerichtet war. Trotzdem lassen sich in allen 
Entwicklungsstadien formaler Beschreibungsgepflogenheiten Zusammenhänge 
zwischen Aufgabenstellung und Katalogprinzipien feststellen. Ein paar 
ausgewählte Bezugnahmen mögen hierfür Beleg sein.

Von vielen wurden ja die Preußischen Instruktionen immer als besonders 
skurril empfunden. Schaut man sich die Entstehungsgeschichte sowie die 
technischen und medialen Rahmenbedingungen an, so erkennt man, dass 
neben der Ambition, Titelblätter re-interpretierbar zu machen, 
Rationalisierungsbemühungen eine große Rolle gespielt haben. Ohne 
Kopiergerät ist das Vervielfältigen von Titelaufnahmekärtchen kein 
Vergnügen. Bibliografische Genauigkeit im Dienste der Wissenschaft unter 
Berücksichtigung medialer und technischer Möglichkeiten, ist das kein 
Zweck, dem man auch heute noch Sinn beimessen kann.

Analoge Interpretationen lassen sich für die Katalogprinzipien von 
Panizzi, Schrettinger und Cutter angeben. Es gab bei allen eine 
Vorstellung (meist auch in theoretischer Formulierung) von 
Zielsetzungen, denen die dann als Regeln formulierten Grundsätze dienen 
sollten. Es ist wohl ein Problem unserer Vermittlungstradition, 
Katalogisierung zu häufig als Dressurakt an praktischen Beispielen denn 
als intellektuell geprägtes Aufgaben lösen angelegt zu haben.

Betrachtet man allein die Regeln zur Herstellung von geordneten Listen 
in Bibliografien und Katalogen, so wird der historische Schlusspunkt der 
Entwicklung markiert durch die gestuften Ordnungsverfahren zur 
Herstellung linearer Ordnungen, wie sie für bibliografische Zwecke oder 
auch für Schlagwortkataloge erforderlich waren. Lohnend als Impression 
sind allemal die 800er Paragrafen der RSWK mit der Sortierung von ‚Ernst‘.

Wie lauten die Sinn- und Zweckhaftigkeiten der Projektionen, wie sie für 
die Standpunkte der aktuellen Diskussion abgeleitet werden können? Wir 
finden nur das noch gut, was andere im nicht-professionellen Umfeld auch 
können?

Natürlich haben sich viele der ehemaligen Überlegungen im Rahmen einer 
veränderten medialen und technischen Umgebung überholt und leider hat 
man im Bereich der Formalerschließung viel zu lange an der Fokussierung 
auf bereits nicht mehr allein existierende Welten festgehalten. Wegen 
mangelnder Bezugnahme auf die aufkommenden Möglichkeiten 
multidimensionaler Abfragen wurden doch die RAK bereits in ihrer 
Entstehungsphase als nicht mehr den technischen Möglichkeiten angemessen 
und als Hemmschuh für die Gestaltung formale und inhaltliche 
Suchinteressen gleichermaßen berücksichtigende Katalogumgebungen 
empfunden. Es war verdienstvoll, dass Eversberg versucht hat, mit der 
Formulierung seiner fünf Prinzipien Leitlinien zu formulieren, auf denen 
man hätte aufbauen können. Den Common sense der Formalerschließung haben 
diese Prinzipien leider nie erreicht.

Mit der Entwicklung von OPACs hat sich die Profession wenigstens 
kurzzeitig um ergonomische Fragestellungen und bessere Berücksichtigung 
von Nutzerinteressen bemüht. Der Wechsel von lokalen OPACs zur Beachtung 
von Webstandards hat dann nicht nur die bibliografischen Standards 
verflacht, sondern auch die ergonomischen Errungenschaften verworfen. 
Masse statt Klasse? Wer es nicht so sehen will, mag doch einmal die 
Frage beantworten, welches die letzte Auflage der englischen Übersetzung 
von Band 4 des Lehrbuchs der theoretischen Physik von Landau und 
Lifschitz ist (der Stücktitel ist mir gerade entfallen).

All dies ist aber kein Grund, nicht die historischen methodischen 
Ansätze weiterhin wertzuschätzen und in geeigneter Form in veränderte 
Umgebungen einzubringen. Das Problem ist vielleicht, dass man von diesen 
Ansätzen noch wissen muss, um sie transformieren und weiter verwenden zu 
können.

In dem Beitrag von Karen Coyle vermag ich nicht zu entdecken, dass man 
Hinweise auf Vorgehensweisen entnehmen könnte, die die von Eversberg 
aufgeworfene Frage „Sollten wir also nicht zielstrebig darauf 
hinarbeiten, eine saubere Trennung zwischen allegro als ILS 
(Integriertes Lokalsystem) einerseits und Web-OPAC andererseits 
umzusetzen? Wobei letzterer eben den Endnutzer nicht mehr konfrontiert 
mit einer zunehmend unvertrauten und als betulichen Umweg empfundenen 
Präsentation von sortierten
Datenlisten, zugunsten schnellem Einwurf von passenden Wörtern und 
sodann intuitiver Navigation im Datenbestand mit diversesten Kriterien, 
die das System ad hoc aus der jeweiligen Recherchesituation ombiniert 
und präsentiert?“ Insbesondere die Realisierung einer intuitiven 
Navigation bedarf eines größeren methodischen Spektrums als von Coyle 
diskutiert, erst recht, wenn auch noch die inhaltliche Ebene mit ihren 
zahlreichen Verflechtungen einbezogen werden soll.

Es ist keine Frage, der Beitrag ist durchaus lesenswert. Vieles darin 
ist jedem vertraut, der sich mit Ordnungsaufgaben aus einer 
allgemeineren als der Sortierperspektive beschäftigt. Er geht wie viele 
andere seiner Art aber davon aus, eine temporär gebundene Lösung zum 
Paradigma für eine universelle Beschreibung zu nehmen. Dabei wird weder 
dargestellt, wie mit neuen Vorgehensweisen die bereits bekannten 
Probleme gelöst werden, noch wird der Komplexität der bereits 
vollzogenen geschweige denn der zukünftigen Entwicklung Rechnung 
getragen. Gerade technisch initiierte Verfahrensweisen werden doch auch 
wieder durch neue technische Rahmenbedingungen abgelöst. Das verstehe 
ich nicht unter „Think different“.

Wenn immer wieder gerne das Google-Ranking als Vorbild gebendes 
Ausgabeprinzip in Anspruch genommen wird, muss man doch auch die 
Voraussetzungen in Erinnerung rufen, die nicht auf geschlossene Systeme 
übertragbar sind, weder die Link-Topologie noch der Aufwand für den 
Einsatz der Algorithmen. Anderen Ranking-Verfahren, die besser auf 
geschlossene Systeme übertragen werden können, haben 
bemerkenswerterweise kaum Resonanz in Implementierungen gefunden. Man 
darf gerne einen Nutzen in der Webbifizierung von Dokumentbeschreibungen 
sehen und sie so global suchbar machen wie andere Webseiten auch, als 
alleinige Verzeichnungs- und Suchform greift dieser Weg aber zu kurz. Es 
sei denn, man spricht lokalen oder anderweitig geschlossenen 
bibliografischen Nachweis -und Suchsystemen mit höherwertigem Standard 
jegliche Existenzberechtigung ab. Vielleicht erinnert sich die Eine oder 
der Andere daran, dass erste Versuche zur kategorisierten 
Dokumentbeschreibung mit Excel unternommen wurden. Soll es die Volte 
dahin zurück geben? Wie weit sind wir davon noch entfernt?

Fazit: Es wird ja nicht eigentlich die alphabetische Ordnung in Frage 
gestellt, eigentlich ist es doch eine Debatte um die Fortführung oder 
Abschaffung einer Aufgabenstellung, die wir Formalerschließung nennen 
und die damit verbundenen Vorstellungen professioneller Standards.

Zum Abschluss dieser Notizen kann ich nur meine Ratlosigkeit darüber 
formulieren, wie es mit Formalerschließung weitergehen könnte, wie eine 
solche Aufgabe zukünftig formuliert und benannt werden könnte. Sicher 
ist aber, dass es in einer Welt zunehmender Komplexität nicht die eine 
Lösung für alle Anwendungsbedürfnisse geben kann. Interessanter als 
angeben zu müssen, welche bereits beherrschbaren Problemstellungen durch 
den Einsatz neuer Verfahrensweisen nicht mehr behandelt werden können, 
sollte es doch sein, neue Methoden und Verfahren für noch nicht 
beherrschte Problemstellungen zu entwickeln und einzusetzen. Auch oder 
gerade „Think different“ ist darauf bedacht, zunächst das zu lösende 
Problem zu benennen und darauf die einzusetzenden Methoden, Verfahren 
und anzuwendende Technik abzustimmen. Leider wird auch im Umfeld gerne 
der umgekehrte Weg eingeschlagen, Sinn und Zweck zu bearbeitender 
Aufgabenstellungen dem technisch Machbaren oder der medialen 
Transformation unterzuordnen. Auch Karen Coyle scheint diese Beobachtung 
bereits gemacht zu haben, wenn man ihre Ausführungen zu ‚Linked data‘ 
als Zukunftsmodell liest. Nicht überall, wo ‚semantisch‘ draufsteht, ist 
über die technische Interoperabilität hinaus auch ein gemeinsames 
Verständnis von Bedeutung vorhanden.

Ich kann weder die Grundaufgabe einer Formalerschließung nach 
professionellen Standards noch die Notwendigkeit in Frage stellen, mit 
verschiedenen Ordnungsprinzipien vertraut sein zu müssen. Damit 
verbindet sich unmittelbar der Nutzen, den normierte Daten für die 
Konsistenz von Ergebnissen bringen können und die damit verbundenen 
Bemühungen um Standardisierungsgrundsätze und Datenformate. Als größtes 
Defizit in der Entwicklung der Formalerschließung sehe ich eigentlich 
die mangelnde Repräsentation und Nutzung struktureller Zusammenhängen 
zwischen den zu beschreibenden Entitäten. Mit den FRBR wurde ein 
bemerkenswerter Ansatz gemacht, diesem Defizit entgegen zu wirken. Wie 
darf man erklären, dass dieser Ansatz in der Profession so wenig 
Widerhall findet, obwohl sein Nutzen für die Gestaltung von Suchfragen 
und Ergebnismengen in Pilotprojekten doch demonstriert werden konnte? 
Wird dieser Ansatz als nutzlos oder nur als zu anspruchsvoll empfunden? 
Soll RDA FRBR-basiert mit Option auf freie Relationierung oder 
anweisungsorientiert als Regelwerk gedacht werden? Ist die kollaborative 
und freihändige Übermittlung nicht normierter Einzeldaten in die Cloud 
die richtige professionelle Perspektive?

Könnte es empfehlenswert sein, eine Bestandaufnahme möglicher Nutzen von 
dem durchzuführen, das heute noch Formalerschließung genannt wird, und 
die einzelnen Posten mit Antworten zu versehen, die die notwendigen 
Hilfsmittel und Vorgehensweisen nennt? Die Diskussion zwischen Eversberg 
und Berger (beginnend mit dem 10.06.) über „Der Blick nach vorn“ hat 
bereits wertvolle Anstöße geboten, die es verdienen, über den Rahmen 
dieser Liste hinaus gewürdigt und vielleicht in Vorschläge kanalisiert 
zu werden. Wollen wir es angehen?

Winfried Gödert

-- 
Prof. Winfried Gödert
Fachhochschule Köln
Institut für Informationswissenschaft
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