[Allegro] Vor- und Nachteile von Sinn und Unsinn

Bernhard Eversberg ev at biblio.tu-bs.de
Mo Mär 6 12:32:23 CET 2006


... bei der revidierten R-Reform  (rR-Reform)

"Einige Unsinnigkeiten der R-Reform sind nun beseitigt."
Sagte eine Kultusministerin anläßlich des Durchwinkens der
neuesten Revision. Ein paar gibts demnach immer noch, aber
wir haben andere Sorgen. Was soll jetzt der Normalverbraucher
tun? Ein gültiges Wörterbuch auf aktuellem Stand gibt es noch
nicht, nur ein Wörterverzeichnis mit den jetzt geltenden
Schreibweisen von etwa 14.000 Wörtern:
     http://rechtschreibrat.ids-mannheim.de/doku/regeln2006.pdf
Dieses müßte man sich zu seinem alten Duden stellen, dann
jeweils in beiden nachschauen und man wäre voll im Grünen Bereich.
Noch nicht abgeschafft wurden "dass" und "muss", obwohl dies
eine recht vorteilsarme Angewohnheit ist: sie führt zu mehr
Fehlern und wurde deshalb nach einem Feldversuch schon 1901
wieder aufgegeben. Darüber war wohl einiges Gras gewachsen...

Wie auch immer, man will zwar nicht alt aussehen, aber schreibt
weiter unverdrossen "dass" und "muss", nur jetzt halt wieder
"kennenlernen" und "Spaghetti" - was ist da das Problem?
Das Problem ist, daß "dass" und "muss" die Markenzeichen der
Reform sind. Aber WELCHER Reform denn jetzt? Die neue, weniger
unsinnige, HAT kein eigenes, schnell erkennbares Markenzeichen!
Wie gibt man unübersehbar zu erkennen, daß man kein Altreformierter
ist, der beliebig viel Unsinn mitmacht, sondern ein Neureformer, der,
im Geleitzug führender Kultusminister, bedeutend weniger
Unsinnigkeiten mitmacht?
Hmm, man könnte versuchen, immer gleich im ersten Absatz etwas jetzt
neu erlaubtes wie "vielversprechend" oder "leidtun", "aufwendig"
oder "selbständig", oder eine sinnvolle Worttrennung am Zeile-
nende einzustreuen, und außerdem etwas von der verbliebenen Reform-
substanz, wie "nummerieren", "potenziell" oder "Stängel".
Aber so behände wie ein schlichtes "dass" und "muss" sticht solche
Aussageabsicht nicht ins Auge, das ist leider wahr.
Man könnte auch alle Texte mit einem Hinweis versehen wie "Abgefasst
nach der geglätteten Orthographie von 2006". (Denn das ph ist wieder
erlaubt und gilt ausdrücklich als gleichwertig!) Nur, wenn 2007
nochmals nachgeglättet wird (worauf man sich verlassen kann) - wie
sieht das dann aus?

Nein, auf einer sicheren Seite ist man nur, wenn man jetzt einfach ganz
frechweg (nicht mehr "frech weg"!) "daß" und "muß" und natürlich auch
"müßte" schreibt. Damit tut man unanfechtbar kund, daß man GAR keinen
Unsinn mitmacht, außer solchem, den auch schon Thomas Mann, Heinrich
Böll, Günter Grass und fast alle mitmachten, die im 20. Jh. irgendwas
geschrieben haben. Sich in so wohl geachteter Kumpanei als altmodisch
abstempeln zu lassen - ist das nicht ein kleineres Übel im Vergleich
zu der Gefahr, jetzt fehleingeschätzt zu werden als williger
Befehlsempfänger und Vollzieher mehr oder weniger unsinniger
Anordnungen einer (noch dazu unbefugten) Obrigkeit?

Die ganze Sache ist heikel und nicht ohne Tragik. Immerhin war alles,
wenn schon nicht gut, dann doch gut gemeint, und sowas freut einen ja
immer. Der größte Vorteil der Reform ließ sich zusammenfassen in der
Sentenz "Ist es auch Unsinn, so hat es doch Methode". Nun wurde
aber, weil's  des Unsinns doch zuviel war, ausgerechnet dieser
Vorteil zur Unkenntlichkeit ramponiert. Welche Vorteile bleiben übrig?
Jeder Hinweis ist willkommen. Denn nach dem kritiklosen Mitmachen
von Unsinn ist das nächstschlechteste das Mitmachen bei etwas,
das, bis auf mancherlei Nachteile, keine Vorteile hat. Auch dies
grenzt an nichts anderes als Unsinn.

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Nachwort
Achso, das "Du" in Briefen, das ist doch ein neues Markenzeichen!
Nur leider unbrauchbar im unpersönlichen Schriftverkehr und in
Veröffentlichungen, also da, wo man sich outen will als
Neureformierter. Davon abgesehen muß zu diesem "Du" in aller Schärfe
eins gesagt werden: Daß sich die Kultusminister erdreisteten, die
Großschreibung nun wieder zu erlauben, in persönlichen Briefen!!!,
ist der Gipfel des ganzen Schlamassels. Nein - noch schlimmer ist,
daß dies weithin genau so berichtet und ernstgenommen wurde! Daß
der Souverän sie nicht umgehend in die Schranken gewiesen hat! Ein
ruckartiges Aufbegehren hätte durch die Republik gehen müssen, denn
niemand, absolut niemand, hat auf diesem Gefilde irgend etwas zu
erlauben oder vorzuschreiben. Nicht in diesem Gemeinwesen. Immerhin
waren nun aber doch in etlichen Gazetten die Kommentare merklich
skeptischer als noch bei der vorigen Revision...
Irgendwo war dieser Tage zu lesen: "Wenn man etwas am Lack kratzt,
findet sich bei manchem Deutschen verblüffend viel wilhelminischer
Untertanengeist. Und die meisten merken es noch nicht einmal."
Das ist denn aber doch massloß übertrieben, wo leben wir denn!





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