[Allegro] Neues aus der Spekulativen Informatik

Bernhard Eversberg b-eversberg at gmx.de
Fr Apr 1 13:07:42 CEST 2022


                  Das Digiversum und seine Agenten

            Neues aus dem Gebiet der Spekulativen Informatik.

(Präventives Dementi: Ein Aprilscherz ist das hier nicht.)

Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) hat in seinem
Buch "Leviathan" erstmals eine von Menschen geschaffene Institution,
den Staat, als wirkendes Wesen dargestellt, und zwar als ein Ungeheuer.
('Leviathan', das war ein im alten Testament erwähntes Seeungeheuer)
Der Leviathan hat die Aufgabe, die von Natur aus rücksichtslosen 
und selbstsüchtigen Menschen im Zaum zu halten. Sie müssen sich einem
"Gesellschaftsvertrag" unterwerfen, der den Kampf um materielle Güter 
reglementiert und die Beziehungen zwischen Menschen. Und es muss 
einen Souverän geben, meinte Hobbes, der Vertragsverletzungen rügt.
(Da liegt wohl auch ein Konzept der britischen Monarchie.)

Kant (1724-1804) dachte abstrakter und wollte mehr Ordnung schaffen
als Aristoteles.
Er sah drei Tummelplätze des menschlichen Verstandes:

1. Reine Vernunft ("Was können wir wissen?") 
   diese beherrscht und befruchtet die Naturwissenschaften

2. Praktische Vernunft ("Was sollen wir tun?")
   die regelt das Miteinander: 
   Der Kategorische Imperativ stellt dem Wollen des Menschen 
   einen Wegweiser hin - auch für den Gesellschaftsvertrag

3. Fragen der Zweckmäßigkeit und der Ästhetik schließlich sind
   Domäne der 'Urteilskraft'

Erst später wurde ein vierter Tummelplatz als solcher erkannt,
und zwar als folgende Frage virulent wurde:

4. "Was müssen und was dürfen wir können?"
   Denn zunehmend wirkmächtig wurde: die Technik. Sie hat wachsende
   Schnittmengen und Reibflächen mit den drei anderen, ganz
   besonders mit der Praktischen Vernunft, von wegen "dürfen".

"Weltumstürzende Macht kann Erfindungen innewohnen" schrieb einmal
Peter Sloterdijk. (S. 809 in 'Kritik der zynischen Vernunft')
Was, wenn nicht das Internet, wäre dafür das mächtigste Beispiel?

Wie nun aber ordnet sich das Internet ein, damit's nicht wirklich
die Welt umstürzt? Braucht's dafür nur ein paar neue Paragraphen 
im Gesellschaftsvertrag? Dazu müsste der wohl global angelegt sein 
und nicht regional. Man muss sich vorerst klarmachen, was sich die
Welt tatsächlich eingehandelt hat mit dem Netz, bevor sie sich 
heillos drin verheddert:

Das Internet, zu Anfang als Kommunikationsdienst gedacht, für Mail und
FTP insbesondere, wird seit der 2. Hälfte der 90er Jahre pausenlos und
immer schneller damit beschäftigt, digitale Inhalte aller Art zu 
verwahren, zugänglich zu machen und immediat nutzbar in zahllosen Vorgängen.
 
Digitalisiert wird nach und nach so gut wie alles, was sich mit 
Nullen und Einsen verschlüsseln und auf Abruf wieder visualisieren 
oder in Vorgängen verwenden lässt. Ausnahmslos alle Digitalisate 
bestehen aus nichts anderem als aus Nullen und Einsen. Rein als 
solche, anders als physische Dokumente, etwa Bücher, sind Digitalisate
für Menschen völlig nutzlos, ohne Technik unbrauchbar.
Geeignete Software leistet die Ver- und Entschlüsselung, das
Auffinden, die Präsentation und die Verwertung in Vorgängen aller Art. 
So gut wie jedes visuelle, sprachliche oder akustische Artefakt lässt
sich digitalisieren, vom schlichten Text bis zum 3D-Bewegtbild, 
Bankkonto, Buchungen, Bücher etc etc.

Omnipräsenz und expandierende Multifunktionalität verleihen der
Digitalität, vor allem ihrer Dynamik im Internet, eine wahrhaft
"weltumstürzende Macht", größer und brisanter als die eines
jeden Leviathan, denn es kann die Infrastruktur bieten für
ganz eigene weltumwälzende Agenten, wie z.B. "soziale" Netze,
aber insbes. Google. Für solche Agenten brauchen wir einen neuen 
Oberbegriff. Vorschlag:

        Was wir in Google vor uns haben, das ist ein "Digigant",
        er wirkt im Internet - im "Digiversum".

Autonome Entitäten sollen die jedoch nicht sein: sie haben die 
Praktische Vernunft zu respektieren - das ist ein durchaus heißes Eisen.
Außerdem und überhaupt brauchen sie Strom, und zwar inzwischen 
ungemein viel. Den können sie sich nicht selber machen, für Strom 
sind allein die alten Leviathane zuständig und kompetent - die 
wiederum sind auf die Dienste der Digiganten schon längst 
angewiesen - bes. wegen der politisch gewollten Digitalisierung.
Doch ohne Strom geht ohnehin kaum noch etwas auf diesem Globus - 
das könnte schon recht bald zum existenziellen Kernproblem 
aller Leviathane und besonders auch der Digiganten werden.
Die Spannung steigt...

Aber wo bleiben bei alledem die Bibliotheken?
Traditionell sammeln und bewahren sie aufgezeichnete Erkenntnisse,
Ergebnisse, Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen und machen alles
das auffindbar und zugänglich. Erleben und empfinden Zeitgenossen das
noch immer so, oder wenden sie sich etwa nicht stets zuerst, immer mehr
und immer öfter bei solcherlei Bedarfen an den Digiganten? Vor allem muss
man zu ihm nicht physisch hingehen, sondern erreicht ihn überall per 
Telefon, und zwar subito. 
Und noch zwei Vorteile: Copy&Paste und keine Verzugsgebühren, weil 
keine Rückgabe.

Was das Digiversum als Infrastruktur und die Digiganten als Agenten
dabei geleistet haben, lässt sich quantifizieren!
Wie es aussieht mit Angebot und Nutzung der Bibliotheken in den 
vergangenen Jahren, das spiegelt die Bibliotheksstatistik:

https://service-wiki.hbz-nrw.de/display/DBS/DBS+-+Deutsche+Bibliotheksstatistik

Darauf fußende "Berichte zur Lage der Bibliotheken" 
sind hier auffind- und abrufbar:
https://digital.zlb.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:kobv:109-1-8425056

Nur als Leseanreiz wenige signifikante Zahlen:

Bericht 2010: "Zahl der Entleihungen von 2000 bis 2009 um 47% gestiegen"
Für die Zeit danach weist die Statistik aus:
   2009 waren es 96,5 Mio, 2020 nur noch 52,3 Mio., also 45% weniger,

Bericht 2020: Das Wort "Entleihung" oder "Ausleihe" kommt nicht mehr vor.
Aber : 76,4% der Ausgaben entfielen auf digitale Medien, 2009 waren es 47,8% 

Unwichtig geworden sind demnach die Bibliotheken keineswegs, nur sind
sie zunehmend jetzt auch Hilfsagenten des Digiversums. 
Betroffen sind natürlich auch das Publikationswesen und der Buchhandel,
und damit das Erwerbungsgeschäft der Bibliotheken. Praktische
Vernunft und Zweckmäßigkeit stehen da noch vor Herausforderungen.

Fußnoten
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Zur Begrifflichkeit:
Das "Digiversum" oder engl. "digiverse" ist im Internet an
vielen diversen Stellen ohne erkennbaren Konsens zu finden.
"Digigant" ist ein Novum.
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Spekulative Informatik??
Hegel (1770-1831) hatte in Berlin den Lehrstuhl für "Spekulative 
Philosophie" inne - der hieß wirklich so, unter dem alten Fritz,
dem Großen (1712-1786).
Meistens wurde das Gebiet aber "Metaphysik" genannt, doch es geriet
zunehmend ins akademische Abseits. Aber die Informatik, die
ist, besonders an der Börse, heute DAS Gebiet für Spekulanten.
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Historische Notiz: Die Bezeichnung "Metaphysik" erfand ein
Bibliothekar im alten Griechenland, der das umfangreichen
schriftliche Werk von Aristoteles ordnete. Alles, was sich 
nicht den physischen Themen subsumieren ließ, kam an's Ende, 
also "hinter die Physik" - genau das und sonst nichts sollte 
damals die Wortprägung "Metaphysik" besagen.





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