[Allegro] Der verblichene Ruhm des Alphabets
Bernhard Eversberg
b-eversberg at gmx.de
Do Okt 1 15:50:26 CEST 2020
Für den eiligen Leser und Anwender ist nur der letzte Absatz wichtig ...
O quae mutatio rerum
Lernen Schüler heute noch das Alphabet auswendig? Und wenn ja, wozu? Vielleicht,
um alphabetische Bibliothekskataloge benutzen zu können?
Wer etwas zu ermitteln hat, der oder die startet seit gut 20 Jahren mit Google. Findet
sich da nichts, geht's weiter zu Wikipedia oder zu einem der "Wörterbücher", z.B. PONS.
Ferner gibt es für viele Bereiche spezielle "Suchmaschinen", dazu zählt
auch www.telefonbuch.de. Immer öfter und immer weniger skeptisch wird jetzt
ferner zu den Übersetzungsdiensten gegriffen - Google Translator und DeepL - denn die
kann man auch schlicht als Wörterbuch nutzen: man kriegt sofort das gesuchte fremde
Wort und nicht noch andere drunter und drüber, die nichts damit zu tun haben.
Nur noch schlußendlich gibt es Online-Bibliothekskataloge, falls auch Amazon versagt.
Und diese Kataloge geben sich so Google-ähnlich wie sie nur können.
Für welche dieser Gerätschaften braucht man die Kenntnis der Reihenfolge des Alphabets?
Richtig, für keins. Die Zeit ist vorbei, wo man in vielen Such-Situationen ohne
derartiges Wissen ein Problem hatte. Und um's perfekt zu machen: Die genannten Dienste
sind überall und jederzeit verfügbar - man muss nicht erst irgendwo hingehen dafür,
man braucht nur ein Telefon, und das hat man immer dabei. Selbst halbgare Kenntnisse der
Orthographie wurden damit verzichtbar: man nutzt die Spracheingabe.
Zwar existieren immer noch dicke Bücher mit alphabetischen Registern, die manchmal
noch für manche Leser nicht ganz unnütz sind. Zunehmend kommen solche Werke aber als
eBooks oder auch in neuem Gewand als online-Datenbanken daher, und die haben dann
auch Suchfunktionen.
Alphabetische Zettelkataloge existieren kaum noch irgendwo.
Große gedruckte Kataloge (British Library, National Union Catalogue, ...)
verstauben in externen Magazinen, den Nutzern unzugänglich und eh schnuppe.
Schöne neue Welt! Wie so oft im Leben gibt's einen Haken: Man macht sich
abhängig von einer komplexen Infrastruktur. Zwei sogar: Stromversorgung
und Internet. Beide sind alternativlos. Das Ganze ist ein Mega-Komplex,
der größte menschengemachte Apparatismus der Weltgeschichte. Er überspannt alle
Gebirge, Flüsse, Wüsten, Urwälder und Ozeane und auch fast jeden Grenzzaun.
Auch der erdnahe Weltraum und der Mond liegen noch im Einzugsbereich. Technisch
noch lösbar wäre auch die Mondrückseite, beim Mars dagegen stellt auch auf sehr
lange Sicht die Lichtgeschwindigkeit eine gewisse Barriere dar.
Früher war's nur der Strom, aber mit Taschenlampe oder Kerze konnte man immer
noch ein Lexikon und einen Zettelkatalog benutzen und ein Buch lesen.
Doch eine strikte Ortsbindung kann heutigen Ansprüchen an das Leben in
keiner Weise mehr genügen. Und sollte wirklich mal das Internet oder die
Stromversorgung ausfallen, dann nützt einem die Kenntnis des Alphabets nichts,
denn dann hat jeder ganz andere Probleme als das Suchen in irgendwelchen
Auflistungen, und Bibliothekskatalogen sowieso!
Wer berufsmäßig mit Altmaterial umzugehen hat, dem sind einschlägige Kenntnisse
zuzumuten, das ist klar - so wie ein Chemiker die Reihenfolge der Elemente zu
verinnerlichen hat und ein Sinologe natürlich Chinesisch können muss.
Summa summarum: Kenntnis der Reihenfolge des Alphabets und Umgang damit zum Suchen
in alphabetisch geordneten Ressourcen ist "Wissensqualm" (Goethe) von gestern.
Meine Frage:
Wie reagiert die Bibliotheksausbildung und wie die Bibliothekswissenschaft? Ich bin da
seit längerem nicht mehr auf dem laufenden. Wird noch "Alphabetische Katalogisierung"
unterrichtet? (Als ich anfing, 1973, arbeiteten Leitende Bibliotheksdirektoren an den
neuen "Regeln für die Alphabetische Katalogisierung".)
Vielleicht hat man längst Schlussstriche gezogen und jemand das abgeschlossene
Kapitel geschrieben oder arbeitet an einem Standardwerk "Geschichte der Katalogisierung und
der Kataloge von 'Alexandria' bis 'allegro'" oder so ähnlich.
Anhang
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"Glaub mir, mit dem Kind das Alphabet zu lernen, ist wirklich der größte Fehler und Eltern
rühmen sich auch noch damit. Unwissend wie sehr sie ihr Kind damit hemmen. Dein Kind muss nur
die Laute, welche es ja schon unbewusst über mehrere Jahre anwendet, dem Buchstabenbild zuordnen."
So steht's in einer Anleitung neueren Datums:
https://miaundmika.de/lesen-lernen-mit-buchempfehlung/
Es mag stimmen. Und Hinweise wie z.B.: "Die Reihenfolge auswendig zu kennen
kann später im Leben hilfreich sein für das Suchen in alphabetisch geordneten
Verzeichnissen und Registern wie z.B. ..." wären definitiv nicht mehr nötig.
Rückverweis:
Einen ersten, ganz kleinen Diskurs zu dem Thema gab es in Inetbib vor 20 Jahren:
Kleine Umfrage zu OPAC-Funktionen (11.6.1999)
https://www.inetbib.de/listenarchiv/msg12109.html
Danach wohl nicht mehr, aber vielleicht ja doch - ich war lange nicht dabei.
Google-Suche jedenfalls findet nichts dergleichen.
Für "allegro" wäre zu erwägen, die alphabetischen Register völlig aus der Benutzungs-
oberfläche zu entfernen und dafür die ALL-Suche weiter zu verbessern. Etwa dadurch, daß
die Suchmaschine Apache Solr fest mit dem System verbandelt wird, die Indexdateien
ersetzend. Siehe dazu Vb229 (31.05.2010)
und den ausführlichen Bericht mit Anleitung zur Solr-Anbindung von 2010:
https://bibservices.biblio.etc.tu-bs.de/pipermail/allegro/2010-May/031451.html
B.Eversberg
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