[Allegro] Vb.276 : Ende eines Dienstwegs

Bernhard Eversberg b.eversberg at tu-braunschweig.de
Do Dez 10 11:58:32 CET 2015


Verlautbarung 276 der Entw.Abt. 2015-12-10
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In eigener Sache: demnächst neue Mail-Adresse, s. ganz unten.


Ende eines Dienstwegs
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Auf ca. 25 Jahre blickt das allegro-Forum nun zurück. Es wurde, was
kaum noch jemand weiß, von Thomas Berger initiiert, dann einige
Zeit später von uns übernommen.

Gut 35 Jahre währt die Arbeit an allegro. Daß es nun irgendwie
"fertig" sei - niemand würde das unterschreiben wollen, "Referenz-
version" hin oder her. Eindrücklich zeigen das die Monita, die am
Tag nach der Freigabe - wie immer in solchen Fällen - vorgebracht
wurden und hitzige Kontroversen auslösten.

40,75 Jahre hat der Chefentwickler an der UB Braunschweig gearbeitet.
Aus der Bibliothek zieht er sich zurück, der lange Marsch auf dem kurz
vor Schluß noch verlängerten Dienstweg hat nach Gesetz und Recht sein
Ende erreicht. Die allegro-Arbeit noch nicht.

Bibliotheksarbeit braucht den ganz langen Atem, darf den Blick nicht
nur auf den Tagesbedarf richten, muß Vorhandenes bewahren und darauf
aufbauen, aber auch Neues schaffen, wie die Zeit es verlangt. In diesem
Klima kam allegro zustande. Sein großes Handikap dabei: Es war wenig
vorhanden, von dem es hätte lernen, worauf es hätte aufbauen können,
aber die Zeit verlangte nach neuen Mitteln und Methoden.
Allzuvieles mußte erst erfunden werden, in unkartiertes Neuland hatte
man Schneisen zu schlagen, die sich auch als Um- oder Irrwege erweisen
mochten, und wer konnte schon längerfristige Ziele und Richtungen
treffend benennen? Von den Schwächen der Hardware und Systemsoftware
in den 80er Jahren noch gar nicht zu reden.
Hier eine Kurzfassung des Entwicklungsverlaufs:
    http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=00050229

Nicht recht bewußt war einem dazumal, vielmehr erst im Nachhinein
wird es klar, daß zu alledem einiger Mut nötig war. Es wäre jedoch
von einem Mut zur Unvollkommenheit zu sprechen, was einem zu spät
erst auffiel, zumal man die lange Dauer des Projekts und die weite
spätere Verbreitung gar nicht vorhersah. So konnte sie sich denn
einschleichen, die Unvollkommenheit. Nun ja, das zeitweise noch als
halbwegs gut empfundene wird schließlich besserem weichen müssen -
das ist ganz normal.

Heute, nach all dieser Zeit, nach einer bibliotheksgeschichtlich aber
recht kurzen Spanne, sieht es anders aus: Wer heute entwickelt, dem
steht ein großes Arsenal zu Gebote, aus einem gewaltigen
Erfahrungsschatz kann er schöpfen, Irrwege sind zur Genüge bekannt,
Ziele lassen sich viel leichter erkennen und anvisieren.
Wer nun daranginge, nochmals etwas Neues zu entwickeln, der könnte
allegro allenfalls noch als Vorübung betrachten, deren Mängel
und Unzulänglichkeiten hier und da als Warnung vor Fehltritten
nützlich wären. Für etwas Neues direkt auf allegro aufzusetzen oder
es einzubeziehen als eine Art Komponente, das empfiehlt sich nicht.

allegro hat seine besten Zeiten hinter sich, soviel ist klar. Wäre
da nicht noch immer die viele konstruktive Kritik als Indikator für
den Bedarf an solcher Software, die Motivation zum Weitermachen
hätte allmählich erlahmen können.

Momentan steckt die Fachwelt in einer Interimszeit: Völlig neue
Datenstrukturen (BIBFRAME, FRBR), Konzepte (Discovery-Plattformen,
Cloud) und funktionale Anforderungen (Linked Data) sind auf dem Weg
in die Realität.
In das kommende Gelobte Land paßt allegro nicht mehr hinein. Mehr als
10 Jahre kann's nicht dauern, bis ganz neue Komplettsysteme da sind
und für alle frei zugänglich. Bis heute sind aber praktisch noch alle
integrierten Bibliothekssysteme fest auf die nun veraltenden MARC-
Strukturen gegründet, ein Wandel wird daher ohnehin einige Jahre
brauchen. So lange muß und kann allegro und werden auch andere noch
durchhalten.

Objektiv sind auf dem langen Weg, da hilft kein Drumherumreden, an
vielen Stellen fragwürdige Entscheidungen getroffen und riskante
Abkürzungen genommen worden. Eine Selbstkritik der eigenen Urteils-
kraft darf sich der Entwickler nicht ersparen. Der Quellcode in C
und C++ wuchs in Jahrzehnten, wurzelnd in den 80er Jahren, als viele
heute selbstverständliche Struktur- und Programmierparadigmen und
-praktiken noch unbekannt waren. Das macht ihn für heutige
Programmierer leider abschreckend komplex und kaum überschaubar. Aber
das Gesamtkonzept, wie schon angedeutet, ist ja für künftige Weiter-
entwicklungen nicht mehr geeignet, daher kommt es nur noch drauf
an, evtl. Korrekturen machen zu können. Das bleibt möglich.

Und schließlich hat der immerwährende Zeitdruck auch nicht selten zu
einem wenig wirschen Umgangston beigetragen. Sorry for that. Aber zum
Kuckuck, man muß einfach auch granteln dürfen in so einem Job!
Hauptsache, er wird getan, ist doch wahr!
Nein, halt! Vom Entwickler wird erwartet, soviel sollten wir immerhin
jungen Aspiranten auf den Weg mitgeben, daß er sich der Maschine
angleicht! Der Computer soll und wird stets ungerührt sein Ding machen,
seine Aussagen sollen von ausgesuchter, wohltemperierter Höflichkeit
sein, und Problemzustände soll er mit leisem Unterton des Bedauerns
kundgeben, begleitet von allen möglicherweise hilfreichen Informationen
in klarer, ausgewogener Sprache. Egal, unter welcher Last er gerade
ansonsten steht. Abweichungen von dieser Haltung können nur irritieren,
aber zum Glück ist er ja programmierbar, man kann ihn dementsprechend
zurichten. Der Profi-Entwickler schafft das auch mit sich selber, um
quasi eins zu werden mit dem System, als Person vollständig aus der
Wahrnehmung zu herauszutreten, einzig aus der Software selbst zum
Anwender zu sprechen, denn der ist ja nur mit der Maschine konfrontiert
und mit seiner eigenen Arbeit. Dieses Ideal werden erst neue, noch im
Werden begriffene Systeme samt ganz anders sozialisierten Entwicklern
erreichen. Bis das aber erreicht ist, junger Entwickler, halte dich an
folgenden Rat: Es wird Ärger geben, denn keiner kann ein perfektes
Progamm schreiben. Lenke den Ärger um! Und zwar auf deine Person -
es gibt kein anderes Ziel, und keins könnte sich besser eignen.
Sei unwirsch, das reicht meistens schon. Das Werk ist wichtiger. Denn
damit haben die Anwender ständig und direkt zu tun, nicht mit dir.

In diesem Sinne,

Ihr Chef- (leider nicht Profi-) Entwickler,
    demnächst in einem neuen Theater


P.S.
In seiner Erzählung "Ende einer Dienstfahrt" kontrastiert Heinrich
Böll die nüchtern-sachliche, juristisch präzise und sauber normierte
Gerichtssprache mit dem rheinischen Umgangsidiom. Erstere kann man
mit einigem Fleiß erlernen und dann vor Gericht routiniert anwenden,
mit letzterem muß man aufwachsen, will man das Ausdrucksvermögen (das
weit hinausreicht über das Potential einer Schriftsprache) in allen
Situationen des wahren Lebens beherrschen.
Auf der Handlungsebene mündet ein sonderbarer Dienstauftrag
("Kilometer-Angleichungsfahrt") in eine skurrile Aktion (Abfackelung
des Dienstfahrzeugs und dazu Intonation sakraler Wechselgesänge). Dies
wird in der Verhandlung von einem Gutachter ausgedeutet als eine
feinsinnige Kunsthandlung, ein Happening, was tatsächlich zu einem
milden Urteil verhilft!
Was kann uns Böll damit sagen für das allegro-Umfeld mit seinen eigen-
willigen Sprachkonstrukten und auf Außenstehende esoterisch wirkenden
Handlungsabläufen? Auf Rheinisch könnte die Antwort wohl lauten:
"Man weiß et nich", womit der Sprecher einerseits zwischen
verunsicherung und Resignation schwankt, andererseits aber auch die
Möglichkeit offenläßt, daß es um durchaus wichtige und sinnvolle
Dinge geht.


In eigener Sache
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Konkret: ab 17.12. nicht mehr an diesem Platz und unter dieser
Mailadresse, ab 11.1.16 unter  b-eversberg at gmx.de





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