R-Reform vor dem Pyrrhus-Sieg

Bernhard Eversberg ev at buch.biblio.etc.tu-bs.de
Di Feb 3 11:27:33 CET 2004


"Rechtschreibreform - Fehler werden 'Varianten'

 Die Kultusministerkonferenz legitimiert die neue Vielfalt in der deutschen  
 Rechtschreibung und gibt die Verantwortung für die Reform ab - noch in dieser  
 Woche."

... schrieb gestern die F.A.Z. Der Beitrag ist hoechst lesenswert fuer jeden, der 
mit deutschen Texten umzugehen hat. Die "Zwischenstaatliche Kommission", der 
Standardisierungsausschuss fuer die deutsche Orthographie, moechte in Kuerze von 
der KMK die absolute und unkontrollierte Oberhoheit erhalten. (Ungeruehrt wird 
behauptet, die Reform sei ein Erfolg, wofuer kein Beweis erbracht und 
Gegenbeweise ignoriert werden.) Es gibt kein anderes Gremium mit vergleichbarer, 
allenfalls noch in Karlsruhe anfechtbarer Machtfuelle. Die F.A.Z. und andere 
bemuehen sich zwar redlich um Aufklaerung (laut Kant der "Ausgang des Menschen 
aus der selbstverschuldeten Unmuendigkeit"), aber wohl vergebens.
Zu gross ist der Ueberdruss an dem Thema, zu bequem die neue Beliebigkeit - und 
es gibt ja die Rechtschreibkontrolle von Word, mehr als die braucht doch keiner 
zu wissen! Ohne sie waere das Chaos weit groesser, das ist wohl wahr - vielleicht 
aber auch der Widerstand gegen die Entmuendigung.
Kant faehrt fort: "Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne 
Leitung eines anderen zu bedienen." Dieser andere ist nun aber nicht die 
Kommission, sondern de facto letzten Endes Bill Gates. Er ist fuer viele 
unversehens zu einem jener Vormuender geworden, "... die die Oberaufsicht über 
sie gütigst auf sich genommen haben" und ohne den sie in Sachen Schriftverkehr 
keinen Schritt mehr wagen.
Kant faehrt seine Zeitgenossen an: "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, 
warum ein so großer Teil der Menschen ... dennoch gerne zeitlebens unmündig 
bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern 
aufzuwerfen." So war das wohl damals...

Allerdings: es gab ja auch schon eine Software fuer die alte Schreibung, und sie 
ist immer noch da: man kann sofort umschalten. War also das Vermeiden von Fehlern 
ein Ziel der Reform, man haette es auch anders erreichen koennen. Und haette 
jetzt summa summarum weniger Fehler und groessere Konsistenz als je zuvor, nicht 
zuletzt in den Katalogen und Suchmaschinen, und u.a. keine vollkommen 
ueberfluessigen Titelaenderungen. Aus und vorbei.

MfG B.E.

Vor allem Schriftsteller gehoeren zu denen, die sich die Freiheit nehmen, "von 
seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen."
Sie schrieben schon letzten Oktober, abgedruckt in der F.A.Z. am 6.10.03:


"Internationale Schriftsteller gegen die Rechtschreibreform

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!

Berlin, den 7. Oktober 2003

Seit einigen Jahren hat die deutsche Sprache zwei Orthographien. Die eine 
Orthographie ist die, die sich seit der Goethezeit allmählich entwickelt und das 
ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch bewährt hat. Es ist die Orthographie, in 
der Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Walter Benjamin, 
Heinrich Böll, Elias Canetti, Paul Celan, Friedrich Dürrenmatt, Albert Einstein, 
Sigmund Freud, Max Frisch, Hermann Hesse, Franz Kafka, Niklas Luhmann, Thomas 
Mann, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Nelly Sachs, Arthur Schnitzler, Max Weber 
und Ludwig Wittgenstein geschrieben und veröffentlicht haben. Es ist die 
Orthographie der deutschen Sprache in Literatur, Philosophie und Wissenschaft.

Die andere Orthographie ist eine, die in staatlichem Auftrag erfunden wurde. Sie 
ist minderwertig und erschwert den präzisen sprachlichen Ausdruck. Gleichwohl 
soll sie gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung auf dem Verordnungsweg 
durchgesetzt werden, durch ihre Einführung in Schulbüchern und amtlichen Texten. 
Die große Mehrheit der deutschsprachigen Intellektuellen lehnt die staatlich 
verordnete Rechtschreibung ab. Eine der besten Zeitungen Deutschlands, die 
Frankfurter Allgemeine Zeitung, lehnt sie ab. Die renommiertesten Buchverlage 
(darunter Hanser, Suhrkamp, Diogenes, Piper) lehnen sie ab. Gleichzeitig aber 
wird den Kindern auf deutschen, österreichischen und schweizerischen Schulen 
beigebracht, daß die bessere Orthographie "veraltet" sei. Es gibt leider Verlage, 
die sich auf die Seite der Bürokratie geschlagen und sich für die "neue" 
Orthographie entschieden haben. Doch selbst in diesen Verlagen beharren die 
deutschsprachigen Schriftsteller darauf, daß wenigstens ihre Bücher in der 
herkömmlichen Rechtschreibung erscheinen. Worauf sie jedoch in diesen Verlagen 
leider keinen Einfluß haben, ist die Orthographie der Bücher, die aus anderen 
Sprachen ins Deutsche übersetzt werden. Während die deutschsprachige Literatur 
fast ausschließlich in der angeblich "veralteten" Orthographie erscheint, wird 
die fremdsprachige etwa von Verlagen wie S. Fischer oder Rowohlt in der 
behördlich verordneten "neuen" Rechtschreibung publiziert.

Wir bitten Sie, liebe Kollegen, sich uns anzuschließen und uns zu unterstützen. 
Wir bitten Sie, dem Verlag gegenüber, in dem Ihr nächstes Buch auf deutsch 
erscheint, auf der bewährten deutschen Orthographie zu bestehen, so wie wir es 
tun. Ihre Leser werden es Ihnen danken.

Mit freundlichen Grüßen

Horace Engdahl, Hans Magnus Enzensberger, Georges-Arthur Goldschmidt, Günter 
Grass, Lars Gustafsson, Elfriede Jelinek, György Konrád, Reiner Kunze, Stanislaw 
Lem, Siegfried Lenz, Claudio Magris, Harry Mulisch, Adolf Muschg, Sten Nadolny, 
Cees Nooteboom, Patrick Süskind, Martin Walser, Christa Wolf"



Bernhard Eversberg
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D-38023 Braunschweig, Germany
Tel.  +49 531 391-5026 , -5011 , FAX  -5836
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