5 Jahre Rechtschreib-Debakel

Bernhard Eversberg ev at buch.biblio.etc.tu-bs.de
Fr Aug 1 16:29:37 CEST 2003


Zum Wochenende noch was ganz anderes:

Fünf Jahre nach Inkrafttreten der sog. Rechtschreibreform läßt sich der Umgang mit
Orthographie und Interpunktion in Deutschland nur noch als chaotisch bis
anarchisch bezeichnen. Erst in zwei Jahren wird sie wirklich verbindlich (im
Bereich staatlicher Regelungskompetenz! Bei der Presse also nicht, d.h. die FAZ
kann fuer immer bei der alten Schreibung bleiben), vorbehaltlich einer noch
ausstehenden Bewertung. Weitverbreitet ist eine wurstige Gleichgueltigkeit, was
schon zu Anfang befuerchtet worden war. Kenntnisse haben ab- statt zugenommen, und
das liegt nicht zuletzt an der "Rechtschreibkorrektur" einer gewissen Software,
ohne die jetzt das Chaos komplett waere. Einer der grossen Verdiener an der ganzen
Sache ist somit ein gewisser Herr aus Redmond bei Seattle, den viele hierzulande
aber schroff zurueckweisen wuerden, kaeme er mit einem Sack voll Spendengeld fuer
Bibliotheken daher. (Dankbarkeit, dass er uns mit der Software hilft, ist nicht
angebracht. *Dass* sie gebraucht wird, das ist das Problem. Hierdurch wurde
unbeabsichtigt der Prozess beschleunigt, intellektuelle Grundfertigkeiten auf
Maschinen zu verlagern. Ueber einen Zusammenhang mit dem Pisa-Debakel darf
nachgedacht werden. Die laengerfristigen Auswirkungen auf hoehrere Fertigkeiten
sind noch nicht abzusehen. Aber vielleicht ist ja alles nicht so schlimm,
vielleicht machen Maschinen irgendwann wirklich weniger Denkfehler...)
Belletristik erscheint noch zu 50% in alter Schreibung, weil die Autoren das so
wollen. Wer Deutsch lesen und schreiben lernt, wird also in der Tat auf Dauer mit
einem Chaos konfrontiert. Weder alte noch neue Schreibung koennen sich so im
Gedaechtnis sicher verankern, das Ergebnis kann nur zuerst Verunsicherung und dann
Gleichgueltigkeit sein - die Software soll's richten, man hat ja auch noch andere
Probleme. 
Genug davon. Was uns zu interessieren hat, sind die Auswirkungen auf
Kataloge und Datenbanken. Vor 5 Jahren wurde eine Bestandsaufnahme der Dinge
gemacht, die man sich evtl. erneut ansehen koennte:

http://www.biblio.tu-bs.de/allegro/formate/rref.htm

Machen Sie sich selber ein Bild von der Situation, schauen Sie sich Beispiele an
in den Datenbanken, mit denen Sie oft arbeiten, etwa diese: schifffahrt (mit
Komposita: rhein-, see-, donauschifffahrt ..) selbststaendig, unselbststaendig
stuckat... (frueher stukkat...) substanziell, existenziell, potenziell potenzial
(viele Komposita) u.v.a.

Die Probleme der Getrenntschreibung, wo frueher zusammengeschrieben wurde, sind
schwerer zu pruefen! Wenn im Titel "nichtlinear" oder "nicht linear" vorkommen
koennte, wie sucht man, wenn man beides erwischen will?

Zu einem Teil kamen die neuen Schreibungen auch frueher schon vor, das sieht man
ja an den Erscheinungsjahren. Aber, wie in der zitierten Untersuchung schon gesagt
wurde, die Inkonsitenzen in Katalogen und Datenbanken wurden durch die Reform
vermehrt, und dessen muss man sich schon bewusst sein, damit man fallweise an der
richtigen Stelle trunkiert bzw. mehrere Versuche macht. Bei Google allerdings:
gibt man "potenzielle" ein, kommen 76.000 Treffer und die Frage "meinten Sie
potentielle?". Gibt man aber "potential", kommen 337.000 und keine Frage! Was das
bei der nicht vorhandenen Trunkierungsmoeglichkeit fuer die 2- oder Mehrwortsuche
bedeutet, muss man sich schon ueberlegen. Das an dieser Stelle faellige Plaedoajee
fuer Register spare ich mir heute.

Wer mehr zum Thema an sich wissen will:
  http://news.google.de/news?hl=de&q=rechtschreibreform

MfG B.E.



Bernhard Eversberg
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